Tod in Marseille
da eigentlich am Boden lag und sich bewegte und stöhnte und jetzt wieder sehr still war.
Bella stand über etwas Schwarzes gebeugt, über eine alte Frau, in einen schwarzen Schal gewickelt, die nun versuchte, sich aufzurichten, und sich dabei übergab, ob vor Anstrengung oder weil sie betrunken war, ließ sich nicht feststellen.
He, sagte Bella.
Sie berührte die Alte an der Schulter; Knochen, nichts als Knochen. Das Aufrichten funktionierte nicht. Sie sank langsam zurück auf die Straße, hielt aber die Augen geöffnet und sah Bella an.
Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Sie tastete nach den Händenunter dem Schal. In der verdammten Straße war es viel zu dunkel, um etwas zu erkennen. Eine Katze strich um ihre Beine. Sie stieß mit dem Fuß danach. Das fehlte noch: Ratten und Katzen und nun der deutliche Gestank von Erbrochenem. Hatte die Alte überhaupt Hände?
Geben Sie mir Ihre Hand, sagte Bella. Ich werde Sie hochziehen.
Unter dem Schal entstand Bewegung. Zwei Hände kamen hervor, die sich ihr entgegenstreckten.
Na, also, sagte sie, geht doch.
Sie ergriff die Hände, zog und hätte sich beinahe selbst auf den Boden gesetzt. Die Person war leicht wie ein Vogel. Als sie stand, war sie so klein wie ein Mädchen von zehn oder elf Jahren. Das allerdings war das Einzige, was sie einem Mädchen vergleichbar machte.
Ich begleite Sie, sagte Bella. Wohin kann ich Sie bringen?
Die Alte fing an zu lachen. Sie hatte eine dunkle Stimme, die nicht zu ihrem Vogelkörper passte.
Ich leg mich besser wieder hin, sagte sie.
Bella griff nach ihren Schultern und hielt sie im letzten Augenblick aufrecht.
Sind Sie verrückt? Hier fressen Sie die Ratten. Sie müssen doch irgendwo wohnen. Sagen Sie mir die Adresse. Wir nehmen ein Taxi.
Sehnsüchtig sah sie zum Eingang der Straße, dorthin, wo es hell war vom Licht der Laternen und von den Scheinwerfern vorüberfahrender Autos.
Taxi, sagte die Alte. Ich hab kein Geld.
Lassen Sie das Geld. Wohin soll ich Sie bringen?
Ich weiß nicht, sagte die Alte, ich leg mich wieder hin.
So ging das nicht weiter. Entschlossen legte Bella einen Arm um die Frau, zog sie vom Rinnstein weg und machte sich mit ihr auf den Weg, Richtung Cours Belsunce. Die alte Frau sträubte sich nicht. Je näher sie der Straße kamen, desto deutlicher konnte Bella sie sehen. Ein winziges, runzeliges Gesicht, dichte graue Haare, Spinnenfinger, große, zu große Augen für das kleine Gesicht. Der schwarze Schal war kostbar. Zu schade, um ihn wegzuwerfen. Man würde ihn in die Reinigung bringen müssen. Flache, dünne schwarze Schuhe.
Ich bin wieder klar, sagte die dunkle Stimme neben ihrer Schulter. Sie können mich jetzt loslassen.
Bella blieb stehen, ließ vorsichtig los, die Alte stand; ein wenig schwankend, aber sie stand.
Nun gehen Sie schon, sagte sie, drehte sich um und wollte zurück in die dunkle Straße. Bella griff noch einmal nach den Schultern, hielt sie fest und drehte die Frau zu sich herum.
Wir gehen jetzt da vorn in ein Cafe. Sie brauchen etwas zu trinken. Los.
Die Alte folgte, ohne sich zu widersetzen. Bella hoffte, dass neben dem Eingang zum Alcazar noch Tische und Stühle auf der Straße standen. Ungern würde sie mit der alten Frau das Innere einer Gaststätte betreten. Die Tische und Stühle waren noch da, auch viele Menschen, die das Alcazar verließen oder hineingingen. Sie waren nicht allein unterwegs. Sie würden nicht auffallen.
Espresso, sagte sie, zwei doppelte, als ein Junge auf sie zustürzte und eifrig nach ihren Wünschen fragte.
Und Gin, einen doppelten, sagte die Alte.
Der Junge war weg, bevor Bella diese Bestellung rückgängig machen konnte. Die alte Frau hatte sich hingesetzt. Sie hielt ein beschmutztes Ende ihres Schals in der Hand und sah Bella aufmerksam an. Sie sah nicht aus, als verbringe sie ihr Leben auf der Straße, trotz des Alkoholgeruchs, der von ihr ausging, und trotz ihrer verschmutzten Kleidung.
Eine Deutsche, sagte sie endlich. Hätte ich mir ja denken können. Die Franzosen lassen die Leute liegen.
Die Deutschen auch, sagte Bella.
Sie hatte das ungute Gefühl, die alte Frau wollte sich ihr anschließen. Dem musste sie vorbeugen.
Haben Sie Geld?
Die Alte lachte. Sie hat mich durchschaut, dachte Bella. Der Junge kam zurück. Das Glas mit dem Gin und die Espressotassen schabten über den Tisch
Wenn ich getrunken habe, geht es mir besser, sagte die Alte. Dann können wir überlegen, was zu tun ist. Ohne Geld.
Sie griff nach dem Glas und trank den
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