Tod in Marseille
Speisesaals, den Tisch ihres Gastes, der bisher leer geblieben war, ein altes englisches Paar setzte, lief ein Schatten des Unmuts über ihr Gesicht, den sie vielleicht selbst gar nicht wahrnahm.
Die letzten Gäste verließen das Restaurant gegen zwei Uhr morgens. Da die Kellnerinnen an den unbesetzten Tischen bis dahin schon Ordnung geschaffen hatten, ruhig und leise und ohne den Gästen das Gefühl zu geben, sie seien nicht mehr erwünscht, konnte sie kurz darauf ebenfalls den Raum verlassen.
Es war zwanzig Minuten nach zwei, als Maria-Carmen ihr Zimmer betrat. Sie zog das Päckchen unter der Schürze hervor, legte es aufs Bett, ohne es anzusehen, zog sich aus, wusch sich, nackt vor dem kleinen Waschbecken stehend, nahm vom Fußende des Betts ein weißes Nachthemd und zog es über den Kopf. Sie steckte die glatten schwarzen Haare hoch, zog den Spiegel aus dem Koffer hervor und betrachtete sich einen Augenblick darin. Ihre Bewegungen waren gelassen und so selbstverständlich wie an jedem Abend, wenn sie nach ihrer Arbeit in ihrem Zimmer war. Nur einmal hob sie den Kopf, um zu lauschen. Aber sie hatte sich getäuscht. Das Geräusch, das sie hörte und das ihr im ersten Augenblick wie das Getrappel von Schritten vorgekommen war, hatte der Wind verursacht. Manchmal fuhren Windstöße durch das offene Dach des Innenhofs und schlugen die harten Blätter der Palmen aneinander. Die raschelten dann oder zischten wie Schlangen.
Sie ging zur Tür und schloss sie ab, bevor sie sich auf das Bett setzte und das Päckchen zur Hand nahm. Ruhig öffnete sie die durchsichtige Kunststofffolie und breitete den Inhalt auf der Bettdecke aus: ein unbeschrifteter Briefumschlag, der drei Zeitungsausschnitte enthielt, drei verschiedene Kreditkarten mit verschiedenen Namen, ein Packen Euroscheine, alles Zweihunderter, zwei Fotos – ein Mann, der weiße Haare hatte, aber noch nicht alt zu sein schien, und eine schwarze Frau, die aussah, als würde sie zu viel trinken und zu wenig schlafen. Die Frau musste einmal sehr schön gewesen sein. Jetzt war ihr Gesicht müde und hart.
Maria-Carmen nahm die Zeitungsausschnitte nacheinander in die Hand, jemand hatte auf jedem ein paar Zahlen notiert. Der Text war in einer Sprache abgefasst, die sie nicht lesen konnte, aber für Französisch hielt. Wenn die Zahlen Daten bedeuteten, dann waren die Ausschnitte etwas älter als zwei Jahre. Eine Weile sah sie bewegungslos auf die vor ihr liegenden Dinge. Dann begann sie, langsam und systematisch, alles noch einmal in die Hand zu nehmen. Schließlich fand sie auf einem der Zeitungsausschnitte, was sie gesucht hatte, und ein kleines, zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie packte Stück für Stück zurück in die Folie, zog ihren Koffer unter dem Bett hervor, griff nach einem Slip, zog ihn an und steckte das Päckchen hinein. Dann kroch sie ins Bett. Sie lag lauschend da. Ihre Füße waren kalt, und es dauerte lange, bis sie einschlief.
Die Polizei, auf die Maria-Carmen gewartet hatte, kam, als sie gerade eine Stunde geschlafen hatte. Obwohl sie hören konnte, dass die Männer sich Mühe gaben, die Hotelgäste nicht zu wecken, war sie von dem Geräusch ungewohnter Schritte im Innenhof aufgewacht. Sie lag da und wartete darauf, dass an ihre Tür geklopft würde. Aber nichts geschah, obwohl auch nicht zu hören war, dass die Polizisten wieder gingen. Sie stand zur gewohnten Zeit auf, wusch sich, zog sich an und erschien, pünktlich wie immer, um sieben Uhr im Speisesaal. Die Kolleginnen, die nicht im Haus wohnten und bei ihrer Ankunft am Morgen vor dem Hotel die Polizeiwagen gesehen hatten, unterhielten sich aufgeregt. Maria-Carmen stellte sich zu ihnen, beteiligte sich aber nicht an ihrem Gespräch. Dann erschien der Hotelmanager mit zwei Uniformierten. Die Frauen unterbrachen ihre Unterhaltung und sahen ihnen entgegen. Sie wurden gefragt, wer am Tag zuvor einen Gast mit hellen Haaren und einem hellen Anzug bedient habe. Maria-Carmen begriff an der Art, wie die Männer sie nicht ansahen, dass sie die Antwort schon kannten. Sie trat schnell und leichtfüßig einen Schritt vor.
Ich.
Erlauben Sie, dass wir kurz mit ihr reden?, fragte einer der Polizisten den Hotelmanager, wandte sich ihr zu und sagte: Wollen Sie uns bitte einen Augenblick Gesellschaft leisten.
Wieder wartete er die Antwort nicht ab. Er verließ den Speisesaal, gefolgt von Maria-Carmen und seinem Kollegen. Der Manager stellte sich ans Buffet und sprach leise auf die
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