Tod in Wolfsburg (German Edition)
würde sie über den Domplatz oder am Alten
Zeughof vorbeilaufen. Wie früher mit den Eltern. Vor hundert Jahren. Als ihr
Vater noch keinen Job bei VW in
Wolfsburg gehabt hatte und sie nur durch die Stadt mit den vielen neuen Autos
gefahren waren, um die Großmutter in Vorsfelde zu besuchen. Johanna hatte erst
sehr viel später begriffen, dass ihre Mutter als junge Frau nach Braunschweig
gegangen war, um ihrem Elternhaus zu entfliehen. Und dass ihr das nie gelungen
war.
Johanna versorgte sich mit Kaffee und Kuchen und hielt beim Bezahlen
Ausschau nach dem Staatsanwalt. Keine zwei Sekunden später hatte sie ihn
entdeckt, denn Reitmeyer hatte recht gehabt – er war in der Tat nicht zu
übersehen. Johanna schätzte, dass der massige Mann, der es mit den Ringern vom
Brunnen zumindest gewichtsmäßig mühelos aufnehmen konnte, gerade eben so in
seinen Stuhl passte. Sie bugsierte ihr Tablett durch die Tischreihen und nickte
ihm zu. Reitmeyer hob nach kurzem Zögern die Hand und beeilte sich dann,
einladend zu winken.
»Staatsanwalt Reitmeyer?«, fragte Johanna sicherheitshalber nach,
als sie den Tisch erreicht hatte.
»Kommissarin Krass?« Er lächelte und streckte die Hand aus. »Setzen
Sie sich zu mir. Gute Wahl übrigens – ich meine den Obstkuchen.«
Johanna schüttelte seine Hand, nachdem sie ihren Imbiss abgestellt
hatte. Dann schälte sie sich aus ihrer Lederjacke, warf sie zusammen mit ihrem
Rucksack schwungvoll auf den Stuhl neben sich und nahm Platz. »Danke, dass Sie
sich kurzfristig Zeit genommen haben.«
Er blickte auf die Uhr und schob mit dicken Wurstfingern seine
schwarz umrandete Hornbrille zurecht. »In zwanzig Minuten muss ich wieder los.«
Die Stimme klang sanft und warm.
Johanna winkte ab. »Das dürfte reichen.«
Sie trank einen Schluck Kaffee und nahm die Kuchengabel zur Hand.
Wie sie an Reitmeyers aufgetürmtem Geschirr erkennen konnte, hatte er bereits
ein frühes, höchstwahrscheinlich mehrgängiges Mittagessen zu sich genommen und
mindestens einen Nachtisch verdrückt. Von nichts kommt nichts, würde Johannas
Mutter sagen. Die Kommissarin schätzte ihn auf Anfang fünfzig, und sie
vermutete, dass er kein biblisches Alter erreichen würde. Seine rötliche
Gesichtsfarbe und die verschwitzten Haarspitzen zeugten von deutlich erhöhtem
Blutdruck.
»Die Milberts«, stieg Johanna schließlich ins Thema ein. »Warum
genau möchten Sie den Fall überprüfen lassen, noch dazu mit einer zusätzlichen
Ermittlerin?«
»Ich will ganz sichergehen. Es kommt nicht gerade jeden Tag vor,
dass innerhalb weniger Monate zwei Menschen aus einer Familie durch Unfälle
schwer verletzt beziehungsweise sogar getötet werden. Das ist das eine. Das
andere ist Waltraud Milberts wiederholt erhobene Anschuldigung, dass ihre
Enkeltochter ermordet und sie selbst auf die Straße gestoßen wurde. Das muss
man ernst nehmen …«
»Reinders sieht das ein bisschen anders.«
»Ich weiß.« Reitmeyer lächelte. »Sein Chef übrigens auch, der zur
Zeit krank ist und mit dem Sie wenig oder auch gar nichts zu tun haben werden.
Die beiden sind sich relativ einig, was die Hintergründe des Falls
beziehungsweise der Fälle angeht, und das ist mit ein Grund, warum ich der
Meinung bin, dass ein neuer, möglichst neutraler Ermittler von außerhalb die
Dinge betrachten muss. Reinders ist nicht mehr aufnahmebereit für neue Erkenntnisse.
Er sieht sie einfach nicht mehr. Außerdem …«
»Hat Ihre Gründlichkeit und Ihr besonderes Interesse an dem Fall
etwas mit persönlichen Verbindungen zu tun?«, unterbrach sie den Staatsanwalt,
während sie ihre Gabel schwungvoll in den Kuchen hieb und ein beachtliches
Stück in ihrem Mund verschwinden ließ. Sie kaute genüsslich und ließ einen
Schluck Kaffee folgen. Dass Reitmeyer sie einen Moment stumm und mit
gerunzelten Augenbrauen ansah, übersah sie geflissentlich.
»Das ist eine sehr direkte Frage«, meinte er schließlich zögernd,
und seine Stimme klang nicht mehr ganz so warm.
»Ist so meine Art.«
»Davon habe ich schon gehört.«
»Na prima.« Johanna lächelte – rücksichtsvollerweise erst, als sie
den Mund wieder leer hatte. »Und?«
Reitmeyer hatte offensichtlich keine Lust, das Lächeln zu erwidern.
»Na schön – Reinders scheint zumindest in diesem Punkt genau nachgeforscht zu
haben: Mein Vater und Karl Milbert sind alte Freunde. Das ist das eine«,
erklärte er. »Aber das ist durchaus nicht alles. Abgesehen von Waltraud
Milberts Überzeugung, dass es bei den
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