Tod in Wolfsburg (German Edition)
winzigen
Augenblick lang konsterniert gemustert hatte. Johanna Krass entsprach mit
großer Wahrscheinlichkeit nicht ihrem Bild von einer souveränen Ermittlerin,
die festgefahrenen Fällen eine entscheidende Wendung zu geben vermochte. Aber
Milbert fasste sich schnell wieder, ihr Ton war höflich, und sie ließ keinen Zweifel
daran aufkommen, dass sie es gewohnt war, selbigen anzugeben, unabhängig davon,
wen sie gerade in welcher Situation vor sich hatte.
Einige Minuten lang plänkelte das Gespräch dahin. Milbert prüfte ab
und an mit vorsichtig tastenden Händen den Sitz ihrer augenscheinlich frischen
Dauerwelle. Während Kaffee und Kuchen serviert wurden, berichtete sie über ihre
gesundheitlichen Fortschritte und die Besonderheiten der Tagesklinik.
Selbstverständlich sei sie privat versichert. Anders könne man sich ja keinem
Arzt mehr anvertrauen. Die Kommissarin sehe das doch bestimmt ganz ähnlich,
oder? Johanna deutete ein abwägendes Nicken an und bemühte sich, ein neutrales
Gesicht aufzusetzen. Milbert war bestimmt keine Frau, mit der sie auf der
Straße oder im Bus in angeregtes Plaudern geraten würde, und Johanna
befürchtete nicht zu Unrecht, dass man ihr das an der Nasenspitze ansehen
konnte.
»Frau Milbert«, hob Johanna in geschäftsmäßigem Ton an, als die
zweite Tasse Kaffee serviert worden war. »Der Unfalltod Ihrer Enkelin ist
Gegenstand erneuter Ermittlungen, nachdem Sie …«
»Das war kein Unfall, so wie mein Sturz auch nicht«, unterbrach
Milbert sie scharf. »Ich habe das von Anfang an gesagt. Meine Enkelin hat noch
nie im Leben Drogen genommen oder Alkohol getrunken – bis auf einen Schluck
Sekt bei meinem letzten Geburtstag!« Ihr rechtes Augenlid begann zu zucken, sie
sah kurz an Johanna vorbei zum Fenster hinaus. »Ich weiß nicht, wie sie auf die
Gleise gekommen ist, aber sicherlich nicht freiwillig«, fügte sie schließlich
ruhiger hinzu und wandte der Kommissarin wieder das Gesicht zu. »Meine rechte
Hand lege ich dafür ins Feuer.«
Johanna stöhnte innerlich auf. Wie viele rechte Hände im Laufe ihrer
beruflichen Laufbahn schon verwettet worden waren, mochte sie gar nicht aufzählen.
»Ich weiß, Frau Milbert«, erwiderte sie. »Aber was immer da passiert
sein mag – Karen hatte vorher getrunken, sie hatte Drogen genommen und …«
»Man hat sie gezwungen!«, warf Milbert ein. »Etwas anderes ist
überhaupt nicht vorstellbar.«
»Sie ist freiwillig in diese Diskothek gegangen.«
»Auch das sehe ich anders.« Milbert hob den Zeigefinger, und ihr
Mund bildete für einen Moment eine scharfe, abwärts gebogene Linie.
Johanna runzelte die Stirn. »Bei allem Respekt, Frau Milbert, aber
Karen ist dort nicht hingeschleift worden. Sie hat sich mit vier anderen
Mädchen verabredet und zu Hause vorgegeben, sie würde sich mit Kopfschmerzen
ins Bett legen, um sich später unbemerkt davonzuschleichen. Die Mädchen sind
gemeinsam in die Disco gegangen, haben getanzt, sich amüsiert, und irgendwann
war Karen verschwunden …«
»Karen hatte Probleme mit diesen Mädchen. Das hat sie mir selbst
gesagt.«
Johanna beugte sich vor. »Mit den Vieren, mit denen sie unterwegs
war?«
»Ja.«
»Sie hat Ihnen die Namen genannt?«
»Rabea, Philippa, Lola und Nelli«, bestätigte Milbert.
»Okay – was waren das für Probleme?«
»Die Vier bedrohen Mitschüler, lauern ihnen auf, verprügeln sie
sogar …«
»Warum?«
»Um zum Beispiel Geld zu erpressen. Und von Drogengeschichten ist
auch die Rede.«
Johanna nickte langsam. »Hat Karen Ihnen das genau so gesagt?«
Milbert schüttelte den Kopf. »Nicht ganz – sie hat Andeutungen
gemacht und Befürchtungen ausgesprochen, weil sie mich nicht allzu sehr
beunruhigen wollte.«
»Andeutungen allein sind wenig hilfreich, wenn es um knallharte
Ermittlungen geht. Befürchtungen schon mal gar nicht«, wandte Johanna ein.
Reinders würde sich die Hände reiben. »Und warum verabredet sich Karen
ausgerechnet mit den vier Mädchen zu einem Discobesuch, mit denen sie Probleme
hat? Wurde sie erpresst oder bedroht?«
Milbert presste kurz die Lippen aufeinander. »Keine Ahnung. Ich
kenne den Zusammenhang ebenso wenig wie Sie. Ich weiß nur, dass eine
Mitschülerin betroffen war, aber ich weiß nicht, um wen es sich dabei handelte.
Später habe ich dann in der Schule mal ein bisschen herumgehorcht. Genaueres
wollte mir niemand erzählen, aber immerhin …«
»Sie sind persönlich und allein in die Schule gegangen, um sich zu
erkundigen, was die
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