Tod in Wolfsburg (German Edition)
aufstößt? Weder Nelli
noch Philippa oder Lola haben auch nur einen Funken von Mitgefühl oder
Entsetzen gezeigt, sondern sind ganz und gar darauf konzentriert, ihre Version
von dem Abend möglichst überzeugend darzustellen.«
»Und was ist mit Betty?«
»Gute Frage.«
10
Sie zögerte die Besichtigung von Tatorten grundsätzlich so
lange wie möglich hinaus, selbst wenn das Verbrechen schon eine ganze Weile
zurücklag, und sie war heilfroh, meist erst dann zu den Ermittlungen
hinzugezogen zu werden, wenn alle sicht-oder nachweisbaren Spuren längst
beseitigt waren. Doch ein Tatort blieb immer ein Tatort, und irgendwann musste
sie die Stelle aufsuchen, an der das Verbrechen oder auch ein tragisches
Unglück passiert war.
Nach besonders brutalen Geschehnissen hatte Johanna häufig das
Gefühl, plötzlich in gleißendem Scheinwerferlicht zu stehen und das Gewusel der
Techniker, die Wochen oder Monate zuvor die Umgebung inspiziert hatten, sowie
das halblaute Gemurmel oder Fluchen der Kriminalbeamten nachklingen zu hören.
Die Anspannung kroch ihr unter die Haut, und der Schock, den alle zu leugnen
und hinter Arbeitswut und starren Gesichtern zu verstecken suchten, ließ sie
erschaudern. Manchmal spürte sie sogar den Nachhall der Gewalt und des
Sterbens. Wäre das regelmäßig der Fall gewesen, hätte Johanna den Beruf
gewechselt. Zumindest behauptete sie das, denn das leise drohende Wispern, das
dann plötzlich ihren Kopf ausfüllte und ihr Herz abrupt aus dem Rhythmus
brachte, war nur schwer zu ertragen. Es existierten so viele Tatorte, dass
Johanna hin und wieder der alptraumhafte Gedanke überfiel, es könnte auf der
ganzen Welt bald keinen einzigen Fleck mehr geben, an dem nichts Böses
geschehen war, sodass sie mit jedem Schritt, den sie machte, den Nachwehen von
Verbrechen und Tod ausgesetzt wäre.
Natürlich hatte sie damit gerechnet, gerade an diesem Ort besonders
empfindsam zu sein, aber als sie mit dem Rad, das ihr der Wirt vom »Alten Wolf«
geliehen hatte, am Ufer des Mittellandkanals entlang langsam in Richtung
Vorsfelde fuhr und die Stimmung sie wie ein bleigrauer Schatten einzuhüllen
begann, hatte sie Mühe, ruhig weiterzuatmen. Die Sonne stahl sich mit einigen
matten Strahlen hinter einer dichten Wolkendecke hervor, ein Kahn schipperte in
Richtung Berlin, nasse Kühle kroch ihr den Rücken herunter, während sie in die
Pedale trat und ihren Beruf verfluchte – wieder einmal.
Am Wäldchen stieg sie ab und stellte das Rad beiseite. Abgesehen von
einigen Fetzen rotweißem Absperrband, das noch an einzelnen Bäumen und Büschen
haftete und im Wind flatterte, wies nichts auf einen Tatort und
kriminaltechnische Untersuchungen hin. Bis zu den Gleisen waren es nur wenige
Schritte. Johanna stiefelte keuchend durchs Unterholz und blieb schließlich
stehen. Die Schienen waren in einem deutlich erhöhten Gleisbett verlegt, das
man erst erklimmen musste, wenn es einen dort, aus welchen Gründen auch immer,
hinaufzog.
Die Kommissarin wischte sich den Schweiß von der Stirn und folgte
dem Schienenverlauf mit starrem Blick. Hier oben landete niemand zufällig. Wer
hier volltrunken und mit zahlreichen Drogen betäubt umherirrte, würde gar nicht
die zielgerichtete Konzentration und Koordinationsfähigkeit aufbringen, um den
Damm hinaufzukraxeln – eher würde man bei dem Versuch ins Stolpern geraten und
wieder herunterfallen. Johanna hielt die bisherige Version der Polizei auch
angesichts der Bedenken des Gerichtsmediziners, die Reitmeyer angeführt hatte,
für zunehmend unwahrscheinlicher, wenn sie die Option auch nicht völlig
ausschließen durfte. Aber wer hatte ein Mordmotiv? Der junge Mann, mit dem
Karen getanzt hatte? Oder steckte doch eine Drogen-und Sexorgie dahinter, die
plötzlich eskaliert war? Ein nächtlicher Überfall, der kaschiert werden sollte?
Johanna drehte sich um und blickte in Richtung Osten, nach
Vorsfelde. Dann machte sie sich auf den Rückweg. Sie musste sich beeilen, um
nicht zu spät zu ihrem Termin mit Karens Großmutter zu kommen.
Waltraud Milbert hatte sich zahllose Prellungen, Verstauchungen und
Abschürfungen sowie einen Armbruch zugezogen, außerdem war bei dem Sturz ein
Schultergelenk ausgekugelt worden. Als Johanna in der Klinik eintraf, kam
Karens Großmutter – trotz oder auch gerade aufgrund der Umstände sorgfältig
gekleidet und geschminkt – gerade von der Physiotherapie zurück und schlug
einen Besuch in der Cafeteria vor, nachdem sie die Kommissarin einen
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