Tod in Wolfsburg (German Edition)
nämlich
so.«
»Gut – ich tu mein Bestes.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Danke. Brechen Sie jetzt nach Hannover auf?«
»In circa einer Stunde. Vorher habe ich noch einen anderen privaten
Termin. Aber Sie können mich trotzdem anrufen, falls sich etwas Wichtiges
ergibt. Vergessen Sie bitte nicht, der Sache mit den Schulwechslerinnen
nachzugehen.«
Oma Käthe war inzwischen dreiundneunzig Jahre alt, und obwohl
Johanna schon bei ihrem letzten Besuch vor einem Dreivierteljahr gedacht hatte,
dass in dem mausartigen Gesicht unmöglich noch mehr Falten Platz fänden, sah es
an diesem späten Herbstnachmittag ganz danach aus, als müsste sie ihre
Einschätzung revidieren. Käthe – schon immer klein und hager wie Tochter und
Enkelin auch – war im Verlauf der letzten Monate förmlich zusammengeschrumpft.
Der dürre Körper war zerknittert, grau, trocken. Sie saß in einem Rollstuhl am
Fenster im Aufenthaltsraum des Seniorenheims und beobachtete zwei Eichhörnchen,
die im Garten ihre Wintervorräte auffüllten. Eine Wolldecke, die Johanna
bereits aus Kindertagen kannte oder zu kennen meinte, bedeckte ihre Knie. Als
Johanna zu ihr trat, wandte sie den Kopf und lächelte. Augen, so strahlend blau
wie die Südsee. Johanna lächelte zurück.
»Erkennst du mich, Oma?«
Käthe winkte ab. »Ich weiß nicht genau, aber ist das überhaupt
wichtig?«
»Eigentlich nicht.« Doch, mir ist es wichtig – warum auch immer,
fügte Johanna in Gedanken hinzu, während sie sich einen Stuhl heranzog und
neben ihrer Großmutter Platz nahm. »Ich bin Johanna, Gertruds Tochter«, fügte
sie einen Moment später hinzu.
Käthe nickte beiläufig, während sie wieder in den Garten hinaussah.
»Ach so. Und wie geht es dir?«
»Ganz gut. Und dir, Oma – behandeln sie dich hier gut?«
Käthe kicherte plötzlich und legte eine knöcherne Hand auf Johannas
Unterarm.
»Klar! Ist nur die Frage, wie ich die hier behandle.«
Sie grölte los, und einige der anderen Bewohner, die vor dem Radio
saßen oder Karten spielten oder vor sich hin dösten, reckten die Hälse. Einige
fielen in das Lachen ein.
Käthes Gelächter brach abrupt ab. »Wie geht es eigentlich deinem
Bruder? Von dem habe ich schon lange nichts mehr gehört.«
»Meinem Bruder?«
»Ja – deinem Bruder. Gertrud war so glücklich damals: endlich ein
Junge.«
Johanna fröstelte es plötzlich. Sie hatte keinen Bruder. »Oma, du
verwechselst da was. Ich habe keinen Bruder.«
»Red keinen Unsinn!« Die Alte schüttelte entrüstet den Kopf, und
eine schneeweiße Haarsträhne rutschte ihr ins Gesicht. In ihrem Mundwinkel
hatte sich ein Speichelfaden festgesetzt, den sie mit der Zungenspitze zu
entfernen suchte. Erfolglos. Sie nestelte nach einem Taschentuch und starrte
nach kurzem Überlegen wieder nach draußen.
Wie lange war es her, dass Käthe sie hochgehoben und durch die Luft
gewirbelt hatte? Hundert Jahre. Mindestens. Im Sommer hatten sie auf dem Balkon
gesessen und große Schalen Erdbeeren mit Schlagsahne verdrückt. Eimergroße
Schalen, wie es Johanna seinerzeit vorgekommen war, und so viel Schlagsahne,
dass die Beeren darunter kaum zu sehen waren. Im Winter gab es pfundweise
selbst gebackene Kekse und Topfkuchen. Manchmal war ihr anschließend schlecht
geworden. Aber das war nicht weiter schlimm. Was raus muss, muss raus. Wer viel
fritt, der viel schitt. Die Küche war völlig überheizt, und im Badezimmer
bollerte der Ofen. Die gute Stube blieb kalt und wurde nur an Sonn-und
Feiertagen genutzt. Oma Käthe lachte immer laut und gutmütig. Es sei denn, der
Alte kam heim. Dann war sie nur noch zittrige Unruhe. Angst. Augen, die wie
Mäuse hin und her huschten. Sie roch nach starkem Kaffee – Jakobskaffee mit
einer ordentlichen Portion Dosenmilch von Bärenmarke –, Kölnisch Wasser und
Zigaretten. Sie trug Schürze und eine winzige goldene Uhr mit noch winzigeren
Zeigern. Züge ratterten vorbei, und eine alte Standuhr verströmte ihren satten
Klang. Wie ein Versprechen.
Johanna blieb noch zehn Minuten neben ihr sitzen. Dann stand sie auf
und stellte ihren Stuhl beiseite. Käthe blickte nachdenklich zu ihr hoch, als
sie die Hand auf ihre Schulter legte.
»Ich bin ganz sicher, Johanna.«
»Was meinst du, Oma?«
»Du hast einen Bruder. Hat Gertrud nie von ihm gesprochen?«
Johanna hatte plötzlich das Gefühl, ihr Herz werde
auseinandergezogen.
»Er heißt Peter.«
Peter, dachte sie lautlos und legte eine Hand auf ihren Mund, ohne
zu wissen, warum.
»Frag deine
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