Tod in Wolfsburg (German Edition)
Mutter.«
Das werde ich nicht tun, dachte Johanna. Nicht jetzt. Sie hörte,
dass sie schwerer atmete.
»Wo ist Peter? Ich habe ihn ewig nicht mehr gesehen.«
Johanna ging in die Hocke und nahm ihre Großmutter in den Arm. »Bis
bald, Oma. Lass es dir gut gehen.« Ihre Stimme klang so weich und zart, dass
sie sie kaum selbst erkannte. Sie sprang auf und eilte zur Tür.
»Johanna!«, rief Käthe ihr hinterher. »Ist was passiert mit Peter?«
Sie beschleunigte ihre Schritte. Als sie im Wagen saß, zitterten
ihre Hände, und ihr Herz raste. Sie stellte das Radio an, setzte das Headset
auf und machte sich auf den Weg nach Hannover. Keine Zeit für alte
Familientragödien.
15
Heiß. Und wieder kalt. Eiskalt wie ein Bergsee. Ihre Zähne
schlugen aufeinander, und der Rücken schmerzte bei jedem Atemzug, als würde er
von einem Messer durchbohrt. Irgendjemand rief etwas. Schrie. Laut und böse.
Sie antwortete, konnte sich aber schon Sekundenbruchteile später an ihre
eigenen Worte nicht mehr erinnern. An die der anderen auch nicht. Welche
anderen? Eine schöne Frau mit schwarzen Flügeln stand plötzlich vor ihr. Ein
Traum? Ihr Lächeln war grausam. Und wissend. Du hast es doch getan, flüsterte
sie und entblößte die Zähne. Ich habe dich gewarnt. Ihre Stimme drang in jede
Pore und füllte mit wuchtigem Beben den gesamten Kopf aus. Sie bewegte ihre
Flügel wie Peitschen. Ein Hieb traf sie und noch einer. Der Schmerz machte sie
atemlos.
Wie gut, dass ich es getan habe, dachte Betty. Bald kann mir niemand
mehr etwas antun.
16
Es war schon vier Uhr durch, als sie nach Hause kam. Im Radio
waren gerade die Nachrichten gelaufen: Finanzkrise, Rezessionsängste,
Konsumflaute. Weiterhin trübes Herbstwetter. Tolle Aussichten. Lisa gähnte und
stieg unter die Dusche, um die Gerüche und den Schweiß der letzten acht Stunden
loszuwerden. Der Kneipenjob brachte schönes Geld, das sie als Studentin gut
gebrauchen konnte, aber nach einer halben Nacht hinter der Theke und in der
Küche war sie heilfroh, in die Stille ihrer kleinen Wohnung zurückzukehren und
ein paar Stunden schlafen zu können, bevor sie zur Uni aufbrechen musste.
Lisa studierte im dritten Semester Publizistik und
Kulturwissenschaften. Brotlose Kunst, wie ihr Vater stets zu betonen pflegte,
aber was hieß schon stets – sie sah ihn kaum, und das war auch gut so. Zwischen
Berlin und Wolfsburg lagen gut und gerne zweihundertdreißig Kilometer, und Lisa
genoss jeden einzelnen Meter Distanz zwischen sich und ihrem Elternhaus. Um den
Kontakt zu ihrer Schwester tat es ihr manchmal leid, aber die Kleine musste da
allein durch, und in ein paar Jahren würde sie es auch geschafft haben:
volljährig, Abitur und raus aus dem biederen Muff. Vielleicht entschied sie
sich ja auch, nach Berlin zu gehen. Hier gab es genug Möglichkeiten – nach wie
vor.
Erfrischt und fast schon wieder munter schlüpfte Lisa in ihr
Schlafshirt, setzte Wasser für einen Tee auf und fuhr kurz entschlossen ihren
Laptop hoch. Vielleicht war ja noch jemand on , und sie konnte zum Entspannen ein bisschen chatten. Mit Sven oder
Maik oder Charlotte. Drei Mails warteten auf sie. Lisa schaufelte mehrere
Löffel Zucker in den Tee und biss von einem üppig belegten Käsebrot ab. Eine
Nachricht war von ihrer Schwester. Witzig – eben noch hatte sie an Betty gedacht.
Lisa lächelte und klickte die Mail an. Eine lange Nachricht. Seitenlang. Das
war ungewöhnlich. Nach den ersten Zeilen war das Käsebrot vergessen. Das
Lächeln auch.
Lange nichts gehört von Dir. Ich bin seit ein paar Tagen zu Hause – Erkältung, Fieber und so weiter. Und es
wird immer schlimmer. Du hast Besseres zu tun, als an mich zu denken oder an
die Eltern. Na ja, ich kann es verstehen. Wirklich. Ist kein blöder Spruch.
Heb diese Mail gut auf, Lisa. Vielleicht kannst Du etwas
unternehmen. Vielleicht auch nicht. Aber dann hab ich es wenigstens versucht.
Glaub bitte nicht, dass ich hysterisch bin oder Fieberträume habe, auch wenn es
mir schwerfällt, mich zu konzentrieren, weil mein Schädel fast zu platzen
scheint. Ich habe Angst, große Angst, ich ertrage das nicht mehr. Ein Mädchen
ist tot. Ein Unfall. Aber das glaube ich nicht. Andere glauben das auch nicht.
Ich hatte sie gern, richtig gern. Sie war so … ja: edel. Auch wenn sich das
kitschig anhört. Und mutig. Wie ich nie sein werde. Verstehst Du? Ich stehe
tief in ihrer Schuld. Sagt man das so?
Es begann vor ungefähr anderthalb Jahren. Nelli aus meiner Klasse
bot mir
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