Tod Live
Kinderstimmen zu kreischen. Eine der Wracktüren ging auf, und ein etwa vierzehnjähriger Junge kletterte herab. Einige Meter von ihr blieb er stehen. »Du weißt ja nicht, wie!« rief er.
»Zeigst du es mir, bitte?«
Er zögerte. »Wenn du willst.«
Sie folgte ihm zu der großen Doppeltür eines alten Containers. Am anderen Ende des Behälters entdeckte sie einen kurzen Tunnel durch die übrigen aufgestapelten Autowracks und dahinter den riesigen Garagenplatz des Depots.
»Kannst du ruhig wissen«, sagte er. »Viele Leute kennen den Durchgang. Sie kommen aber nur rein, wenn wir wollen.«
Er lief zu seiner Bande zurück, die sofort wieder zu spielen begann.
Auch innerhalb der hohen Depotmauern wurde ihre Ankunft bemerkt, aber nur am Rande. Auf ihrem Weg zum Terminalgebäude kam sie an vielen Randlern vorbei, die sich unterhielten, auf dem markierten Asphalt komplizierte Wurfspiele spielten oder einfach nur dasaßen. Sie schienen ihr ständiges Nichtstun keineswegs beunruhigend zu finden. Gewöhnlich blickten sie auf, wenn sie vorbeikam, und grüßten sie verwirrend freundlich.
Über ihr kreisten und kreischten Tausende von Seemöwen. Sie gehörten einer neuen Gattung an, den Aasvögeln der neuen Gesellschaft. Wenn man diesen Tieren einen lebendigen Fisch hinhielt, hätten die meisten nicht gewußt, was sie damit anfangen sollten. Ähnlich stand es mit den Randgruppen.
Der Container-Terminal war einmal Eisenbahnkopfstation, Frachtdock und Lkw-Ladezentrum gewesen. Jetzt war die riesige Fläche unter dem Dach in Straßen und kleine Plätze unterteilt, mit Ständen, die an einen morgenländischen Bazar erinnerten. Tausend verschiedene Düfte förderten diese Illusion. Da es im Terminal nie regnete, wurden alle möglichen ungewöhnlichen Baustoffe verwendet: Ein ›Haus‹ war völlig aus weißen Polystyren-Blöcken erbaut, die einmal Transistorradios aus Schweden enthalten hatten. Ein anderes, muffiger riechendes Gebäude bestand aus Büchern, darunter viele Peregrine-Bände. In den schmalen Gassen roch es nach Weihrauchstäbchen, die die anderen, noch weniger angenehmen Düfte kaum zu überlagern vermochten.
Katherine wanderte einige Zeit herum, ohne die Läden zu finden, die sie suchte. In ihrer Stadtkleidung kam sie sich absurd und auffällig vor. Niemand stellte ihr Fragen oder bot ihr Hilfe an, doch die Leute sahen ihr mit einer interessierten Offenheit nach, die sie bedrohlich fand. Sie schienen der Möglichkeit einer Verständigung so aufgeschlossen gegenüberzustehen und soviel Zeit dafür zu haben, daß Katherine innerlich zurückwich. Daß ich jetzt nur keinen Schüttelfrost bekomme, dachte sie. Sonst werden sie mich berühren, sich mir aufdrängen, all ihre widerliche Fürsorge in die Tat umsetzen.
Plötzlich erreichte sie eine ganze Straße der gesuchten Läden – Kleidung für ihre vorgesehene Maskerade. Sie blieb aufatmend am ersten Laden stehen, der kaum mehr als ein Marktstand war, mit einer buntgestreiften Markise und einem Warenangebot, das ihr wie eine Mischung aus alten Lumpen und Hongkong-Imitationen alter Lumpen vorkam. Die dicke, junge Frau, die auf einem eingetretenen Gitarrenlautsprecher saß, trug die Uniform eines New Yorker Polizisten.
»Fummelzeug?« fragte sie. »Wollen Sie Fummelzeug?«
Katherine wußte, daß sie als Touristin angesehen wurde – im Grunde eine Beleidigung.
»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen«, sagte sie steif, und als sie ihre Worte hörte, versuchte sie zu lächeln. »Wissen Sie, ich brauche Sachen, die länger als einen Tag halten. Ich hoffe das Lager zu wechseln.«
»Wenn Sie nicht dorthin passen, wo Sie sind, bleiben Sie einfach nicht. Ganz einfach.«
Katherine hatte nicht die Absicht, irgendwohin zu passen. Oder irgendwo zu bleiben. Sie brauchte eine Verkleidung, die ihre restlichen Tage überdauerte. ›Fummelzeug‹ waren die Fetzen, die sich Touristen kauften und zu Hause bei Partys anzogen.
Sie wählte einen rotbraunen Umhang mit einem langen, weichen Haargürtel, einen Unterrock aus gefüttertem Plastikstoff und eine Winterjacke der Gebirgsjäger mit Kapuze. Dazu Golfsocken, Holzpantinen, eine Sonnenbrille und ein Halsband aus geschärften Stahlscheiben. »Wenn’s mal brenzlig wird«, sagte die dicke, junge Frau.
Andere Standbesitzer umringten Katherine und gaben Ratschläge. Ihr Haar würde sie verraten, bis es länger geworden war, sagten sie, und es unter der Skikapuze zu tragen war zu unbequem, wenn sich das warme Wetter hielt.
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