Tod to go (Crime Shorties)
verstorbenen Großvaters, dazu Schraubenzieher, Hämmer, einen verbogenen Drahtbügel und zuletzt einen kleinen Amboss. Sie sah, wie ich immer mehr vor ihr auf das Brett türmte. Es war nichts als Firlefanz, nichts als Ausschmückung meiner abstrusen Geschichte. Möglich, dass ich ihr weismachen wollte, dass die Dinge und auch sie sich um ein paar Zentimeter bewegt hatten.
Mit einem lauten Ächzen brach das Holz und Marie schoss nach unten. Dann wurde ihr Fall gebremst und sie versank langsam in der braunen Brühe. Voller Vertrauen hielt sie immer noch die Augen geschlossen. Ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Ich war starr vor Schreck.
Als Letztes schwammen ihre Haare einen Atemzug lang auf der Oberfläche. Ja, sie hatte gelächelt. Ich rannte in den Schuppen, holte eine Leiter steckte sie in die Fallgrube, weil ich glaubte, sie könne sich daran festklammern und ich sie dann herausziehen. Ich schrie, rührte mit der Leiter im Unrat, doch es stiegen nur ein paar Blasen auf.
Ich hatte Albträume, versuchte mich abzulenken, und irgendwann glaubte ich, dass ich mir das alles eingebildet hatte. Niemand suchte Marie, niemand fragte nach ihr. Aber sie blieb in meinen Träumen, mit denen ich in den Nächten rang.
Letztes Jahr wurde direkt neben dem Haus meiner Großmutter ein Fundament ausgehoben. Vorbereitungen für den Bau einer Supermarktfiliale. Und dabei fanden Bauarbeiter ihr Skelett. Niemand erinnerte sich an ein verschwundenes Mädchen, niemand vermisste sie. Fast niemand.
Viele, viele Jahre sind vergangen. Jesus ist mir nicht erschienen, und auch Neil Armstrong habe ich nicht getroffen. Aber ich wache wieder und wieder schweißgebadet aus meinen Träumen auf. Und sehe ihr Gesicht. Lächelnd, überrascht und voller Vertrauen.
Das Grauen in Greetsiel
Die Kutter von Greetsiel tragen ihre hochgezogenen Krabbennetze wie tanzende Haremsfrauen ihre Schleier. Sie verbergen ihre Gesichter, blitzen mit ihren kajalumdunkelten Augen und haben auf den Lippen die Geschichten von Tausend … und einer Vergewaltigung.
An diesem Morgen war er plötzlich da. Saß in einem Rollstuhl und verfolgte mit seinen eisgrauen Augen die Möwen, die über der Kutterflotte kreischend nach Beifang suchten.
Als mich dieser Blick vor langer Zeit das erste Mal traf, war ich verstummt. Mehr als dreißig Jahre ist das her, doch ich schaffe ich es noch immer nicht, anderen Menschen in die Augen zu sehen oder mich lange in geschlossenen Räumen aufzuhalten.
Auch, wenn den Menschen um mich herum der Geruch von Fisch und die salzige Brise der Nordsee um die Nase wehte, in mir stieg der feuchte Dunst und der Seifengeruch der Duschräume auf.
Ich sah die Mauern aus Ziegeln. Ja, vor mir türmte sich dieser unsagbare Schrecken aus Ziegeln und Gittern auf, von dem ich schon als Sechsjähriger immer wieder gehört hatte und in dem ich mich nach dem Tod meiner Mutter plötzlich wiederfand: Das Heim.
Im blinkenden Licht einer defekten Neonlampe hatte er mich gleich am zweiten Tag auf meine »Brauchbarkeit« hin untersucht. Noch immer spüre ich diesen dumpfen und zugleich stechenden Schmerz im Darm.
Das war alles lange her, doch es gab auch in den Jahren danach keinen einzigen Tag, an dem er nicht durch meine Gedanken gegeistert wäre. Mit seinem stählernen Blick und dem Metalllineal, das er mir über die vorgestreckten Finger drosch.
Und jetzt war er aus meinem Kopf herausgetreten, saß wenige Meter vor mir in seinem Rollstuhl und streckte seinen Kopf der Abendsonne entgegen.
Nur wenige, gut in Winterkleidung verpackte Touristen waren um diese Jahreszeit zu einem Spaziergang unterwegs.
Eine junge Frau, die ihm sehr ähnlich sah, schob ihn an den Kuttern und den Giebelfronten der Bürgerhäuser vorbei. Wahrscheinlich seine Tochter. Mit einer Geste hieß er sie anhalten und las die Inschrift: »IN DOMINO CONFIDO«- »Ich vertraue in Gott«.
Seinem Lächeln nach, gefiel es ihm. Kein Wunder, denn für zahllose Kinder war er das jahrelang selbst gewesen: ein dunkler Gott.
Die junge Frau schwenkte das Gefährt und rollte den Mann direkt an meinem Tisch vorbei. Unfähig mich zu bewegen, sah ich, wie sie im Eingang einer kleinen Pension verschwanden.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Serviette in kleine Stücke zerrissen hatte. Die Zeit eilte. Ich brauchte einen Plan. Sofort.
Vor mir schob sich eine Holzjacht mit dem Namen Nadir an den anderen Schiffen vorbei. Drüben am Yachtclub warf der Skipper ein Seil auf den Anleger und
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