Tod und Leidenschaft (German Edition)
Straße getreten waren.
„Der Doktor hat Recht, denke ich. So wie der gewütet hat …“
Abberline nickte. Doch dann sagte er:
„Harris … ich hatte vor Kurzem den Fall einer Emma Elizabeth Smith …Eine 45 Jahre alte Prostituierte der untersten Kategorie … Sie wurde auf offener Straße, am hellichten Tag, von ein paar Rowdies überfallen. Sie haben die Frau so zugerichtet, dass sie am nächsten Tag im Krankenhaus starb.“
„Verzeihung, Sir … Aber ich sehe nicht ganz …“
„Die Männer hatten ihr mit solcher Brutalität einen Stock in den Unterleib gerammt, dass ihr gesamter Bauchraum zerfetzt wurde! Können sie sich das vorstellen? Das geschieht hier! Jeden Tag. Von den Übergriffen ganz zu schweigen, über die niemand auch nur ein Sterbenswörtchen verliert. Diese Frauen sind ganz unten. Niemanden kümmern sie. Niemand schert sich einen Dreck, wenn sie vergewaltigt, zusammengeschlagen und ermordet werden. DAS ist das Eastend! Nein. Ich sehe nicht, dass wir es hier mit einem außergewöhnlichen Mörder zu tun haben.“
Harris war bei den Worten des Inspectors verstummt. Grauen hatte ihn bei der Vorstellung erfasst, was diesen Frauen angetan wurde. Konnte es wirklich sein, dass solche Taten Alltag waren?
„Es ist unfassbar, Sir. Das sind Tiere. Bestien …“, sagte er tonlos.
„Nein, Harris. Das sind Menschen. Und das ist unser größtes Problem.“
X
Elizabeth stand bei Mr. Lewinsky im Atelier, der – nur von einer einzigen Lampe beschienen – die Federn und Bänder zur Seite geräumt hatte und eine Zeitung studierte.
Seine Augen waren trotz Brille sehr schlecht und er musste sich tief über die Zeilen beugen, um sie lesen zu können.
Mit jeder Bewegung seines Kopfes, rauschte das Ende seines silbernen Barts über das Papier.
Elizabeth trug eine helle Schürze mit Rüschen über den Schultern und ein dunkles, bodenlanges Kleid. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete ihren Chef.
„Grauenvoll, nicht wahr Mr. Lewinsky?“
Er brummte etwas Unverständliches.
„Bitte?“, hakte sie nach.
„Ich sagte … Der Mensch ist des Menschen Wolf.“
„Ja. Das ist wohl wahr.“
Er hob den Kopf und legte die Brille beiseite.
Sie waren beide etwas ratlos, denn Elizabeth hatte in dem Artikel über den Mord von einer neuen Haube gelesen, die das Opfer getragen hatte und war sofort mit dem Artikel zu Mr. Lewinsky geeilt.
„Denken Sie, es könnte die Frau von gestern gewesen sein, Miss Montgomery?“
Elizabeth atmete tief durch.
„Die Beschreibung könnte passen. Ich werde wohl zur Polizei gehen müssen.“
Lewinskys Augen weiteten sich ein wenig, doch genug, dass es ihr auffiel.
„Die Polizei? Das ist nicht gut, mein Kind.“
„Sie haben Vorbehalte der Polizei gegenüber?“
„Nun ja …“ Er schien nach Worten zu suchen und faltete deswegen die Zeitung mit äußerster Sorgfalt zusammen.
„Sehen sie … allgemein hat die Polizei die Eigenschaft, Dinge zu komplizieren. Ihre Mittel sind beschränkt und ihr Horizont ebenfalls. Allgemein kompensieren Polizisten dies durch Brutalität. Was sie natürlich Entschlossenheit nennen. Meiner Erfahrung nach, löst eine Gruppe ihre Probleme immer noch am besten, indem sie sich selbst darum kümmert. Denn wer kennt sich besser in einer solchen aus, als diese selbst?“
Elizabeth wusste, was er meinte.
„Sie haben die Erfahrungen mit der russischen Polizei gesammelt. Aber ich denke, Mister Lewinsky, dass sich unsere hiesige Polizei doch sehr von der in ihrer Heimat unterscheidet.“
Jetzt lächelte er ebenso sanft wie nachsichtig.
„Mein liebes, liebes Mädchen … Täuschen sie sich nicht! Sobald ein Mensch eine Uniform anzieht, und sei es jene des Zaren, oder Ihrer Majestät, nimmt er eine bestimmte innere Haltung an. Und diese Haltung ist immer gleich … über alle Grenzen hinweg.“
Elizabeth konnte nicht umhin, ihm in gewissem Sinn zuzustimmen. Zumal, wenn sie in Rechnung stellte, dass er – im Gegensatz zu ihr – sehr viel Lebenserfahrung hatte.
„Wissen sie … was ich aber nicht verstehe, ist … warum wird dieser Mord so bevorzugt in den Zeitungen abgehandelt? Ich kenne das Eastend. Kenne Whitechapel. Und so schlimm es ist … aber solcherlei Taten scheinen sich doch dort beinahe täglich zu ereignen …“
Lewinsky wollte gerade etwas sagen, als die Glocke über der Ladentür anschlug. Elizabeth wandte sich schnell um und trat in den Laden.
Ein Mann stand vor ihr. Den
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