Tod und Leidenschaft (German Edition)
Messer dabei.“
„Meine Güte, Harris. Wir schreiben das Jahr 1888 und befinden uns im Eastend. Jeder Mann hier hat ein Messer.“
Mit nervösen Fingern schob Harris das Glas hin und her und hinterließ dabei eine nasse Spur auf dem abgenutzten Holz.
„Ich sehe die Sache anders … Ich denke, er ist schon losgezogen, um zu töten. Er hat es auf Huren abgesehen. Und er will sie nicht nur töten. Er will viel mehr.“
Abberline sah ihn über den Rand seines Glases scharf an.
„Weiter!“, kommandierte er.
„Hm … keine Ahnung, Sir. Aber ich denke, er ist irre. Er will nicht nur töten, sondern – vernichten. Bestrafen. Und nicht nur die eine … Er will alle Huren ausschalten.“
Abberline setzte lachend sein Glas ab.
„Dann kommt ganz schön viel Arbeit auf unseren Freund zu!“
Blitzartig schoss Harris Elizabeth Montgomery ins Gedächtnis.
„Sir!“
Das Lachen schmolz zu einem Grinsen zusammen.
„Du liebe Güte, Harris. Ein kleiner Scherz … Also sie denken, wir haben es mit einem Mörder zu tun, der wahllos Huren aufgabelt und niedermetzelt. Das wäre allerdings neu. Dann wäre keine Frau mehr sicher im Eastend. Nicht eine.“
Auch das Grinsen war verschwunden.
„Eben.“
„Na bravo!“, rief Abberline aus und ein paar Köpfe drehten sich in seine Richtung. Er nahm einen ordentlichen Schluck. „Und wie erkennen wir diesen Irren? Sehen sie sich doch nur mal die Gestalten in Whitechapel an …“
„Ich weiß es auch nicht, Sir.“
Abberline beugte sich so weit nach vorne, dass seine Nase beinahe an die seines Untergebenen stieß.
„Harris! Mann! Wenn sie Recht haben … und ich muss sagen, ich habe gewisse Sympathien für ihre Gedankengänge … Dann liegt ein steiniger, langer Weg vor uns. Und auf diesem Weg wird viel Blut fließen. Sehr viel Blut.“
Sie sahen sich ernst und schweigend an.
Es war Abberline, der die Spannung durchbrach, indem er sich zurücklehnte, die Hände hinter dem Kopf verschränkte und sagte:
„Ich glaube, die Idee von der gewalttätigen Bande ist mir wesentlich lieber.“
„Mir auch, Sir.“
Die Lippen zusammengepresst, löste Abberline seine Hände und zog mit seinem Zeigefinger Linien in die nassen Flecken auf dem Tisch.
„Wir haben keinerlei Erfahrung mit einem solchen Täter. Und ich habe meine Zweifel, nachdem ich unsere Vorgesetzten kenne, ob man uns hierin folgen wird. Ich muss leider davon ausgehen, dass man sich an den oberen Stellen lieber an einfachere Erklärungen halten wird.“
„Nicht, wenn es einen weiteren Mord gibt.“
Abberlines Braue wanderte nach oben.
„Sollen wir darauf hoffen? Harris … wenn es einen weiteren Mord gibt … und dann vielleicht noch einen und noch einen … dann haben wir bald einen Aufruhr im Eastend. Weiß Gott, wir haben schon genug mit diesen irischen Fenian- Bastarden zu tun … das Letzte, was wir brauchen, ist ein Bürgerkrieg wegen eines irren Schlächters.“
Der Gedanke war Harris auch schon gekommen. Ihm war nur allzu bewusst, auf welchem Pulverfass das Empire saß.
„All diese ausgehungerten Gestalten dort … Verlierer aus aller Herren Länder … Hoffnungslos, nichts zu verlieren … Was, wenn die anfangen, aufeinander loszugehen? Und mehr noch … Was wenn sie die Grenze überschreiten? Können sie sich das vorstellen?“
Sein Vorgesetzter wisperte ihm die Worte zu und Harris erschauderte bei der Vorstellung.
„Können sie sich vorstellen, was geschieht, wenn diese Leute das Gefühl haben, wir kümmern uns nicht genug? Wenn ihnen einfällt, dass es Zeit wäre, sich zu holen, woran sie bislang keinen Anteil hatten? Aufgestachelt von den richtigen Leuten …“
Er brauchte seinen Satz nicht vollenden, um in Harris das Bild absoluten Grauens hervorzurufen. Horden ausgebeuteter Arbeiter und Huren, die sich, bewaffnet mit Messern und Prügeln, auf den Weg in Stadtteile wie Belgravia oder Kensington machten …
„Wir haben keine andere Wahl – wir müssen diesen Teufel kriegen. Koste es, was es wolle!“
In diesem Moment glomm ein Hoffnungsschimmer in Harris auf.
„Wenn wir mit diesen Überlegungen nicht alleine sind … Könnte es dann nicht sein, dass auch unsere vorgesetzten Stellen diese Befürchtungen teilen? Dass man uns in jeder Hinsicht unterstützen wird?“
Abberline schüttelte müde den Kopf.
„Ich weiß nicht, Harris. Selbst wenn … Mit welchen Mitteln sollen wir denn vorgehen? Was wissen wir denn von den Krankheiten in der Seele eines Menschen? Woran erkennen wir
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