Tod vor Morgengrauen: Kriminalroman
dann sei alles in Ordnung. Sie glauben, das färbe auf andere ab.
Sie meinen, wenn Sie sich anstrengen, dann werden andere es ebenfalls tun, Sie meinen, Sie könnten damit eine Welle des Guten
in Gang setzen, die alles Böse in der Welt fortspült. Ich kenne Sie, Hope, weil ich auch einmal so gewesen bin. Nein, noch
besser. Denn ich hatte meinen Moment der Offenbarung bereits lange vor’92. Um drei Uhr morgens warf ich einen Blick durch
die Gitterstäbe in die Zelle der Polizeidienststelle in Pretoria, und unter den fünfzehn oder sechzehn Schwarzen, die dort
drinnen waren, Betrunkene und Messerstecher und Vergewaltiger und Einbrecher, bemerkte ich einen Mann, der auf der Kante der
Metallbank saß und einen Band mit Gedichten von Breyten Breytenbach vor sich aufgeschlagen hatte. Ein Schwarzer. Ich war Lieutenant,
Hope, der zweithöchste Beamte der Dienststelle. Ich ließ ihn rausholen und in mein Büro bringen. Ich schloss die Tür und unterhielt
mich mit ihm. Erst über Lyrik. Er war Lehrer in einer schwarzen Township, in Mamelodi. Sein Afrikaans war besser als meins.
Er war verhaftet worden, weil er nach Mitternacht zu Fuß in einem weißen Viertel unterwegs gewesen war, auf dem Weg zum zwölf
Kilometer entfernten Bahnhof. Er hatte einen Professor besucht, der an der Universität von Südafrika unterrichtete. Auf dessen
Einladung, weil er mit ihm über den Fortschritt seiner Abschlussarbeit |227| über Breytenbach gesprochen hatte. Man hatte ihn eingesperrt, weil er ein Schwarzer war, und was hatte ein Schwarzer zu dieser
Tageszeit in einem piekfeinen weißen Viertel verloren? Das war mein Augenblick der Wahrheit. Es hat mich verändert. Und plötzlich
meinte ich, eine Art weißer Gandhi zu sein, der in Schlafzimmern und Wohnzimmern die Botschaft des passiven Widerstands verbreiten
müsste. Ich machte es mir zur Aufgabe, Tankstellenwärter, Putzfrauen und Bedienungen in Cafés darauf anzusprechen. Auf witzige,
freundliche Weise, ich wollte sie als Menschen ansprechen. Ich wusste, wir kamen aus unterschiedlichen Kulturen, aber Unterschiede
sind nichts Falsches, Unterschiede sind schlicht und einfach nur Unterschiede. Denn im Grunde sind wir alle Menschen. Das
war mir bewusst, Hope.«
Er sah sie an. Ihr Blick lag auf ihm, sie war überrascht: Er sprach zu ihr, sprach zu ihr wie ein Erwachsener, wie ein intelligenter
Mensch.
»Und genau darum geht es: Ich dachte, wir wären alle gut. Zumindest die meisten. Und lassen Sie sich gesagt sein, das war
ein riesiger Sprung, eine gewaltige Leistung für einen Bullen. Ich beging den großen Fehler zu glauben, wir wären alle gut,
nur weil
ich
es war.«
Er verstummte. Er saß vor ihr in seinem abgewetzten Sessel und sah sie an, ließ den Blick über die mittlerweile vertrauten
Konturen ihres Gesichts schweifen, spürte, mit welcher Intensität sie ihm zuhörte. Er hatte das Gefühl, dass sie zu nahe sei,
und langsam erhob er sich, vorsichtig, um sie nicht zu berühren, um Körperkontakt zu vermeiden. Sein Mund war trocken. Er
ging die wenigen Schritte zur Küchenzeile, |228| schaltete den Wasserkocher an, drehte sich um. Ihr Blick war noch immer auf ihn gerichtet.
»Meine Mutter ist Künstlerin. Das sind ihre Werke.« Er zeigte zur Wand. »Sie schafft wunderbare Gemälde. Sie betrachtet die
Welt und macht sie auf der Leinwand noch schöner. Ich denke, das ist ihre Art, sich vom Bösen, das in allen von uns ist, zu
distanzieren. Sie sagt, man müsse sich die ganze Geschichte ansehen, wenn man die Menschen verstehen will. Wir seien, was
die Rückschau anbelangt, kurzsichtig, wir würden nur bis zu den Römern und Griechen zurückblicken, manche vielleicht sogar
bis zu Moses, aber man müsse viel, viel weiter zurückgehen. Manchmal, sagt sie, wenn sie in ihrem Atelier arbeitet und es
ganz still ist, hörte sie ein Geräusch, und dann spürte sie, wie sich die winzigen Muskeln in ihrem Ohr zusammenziehen, um
die Ohrmuschel in die Richtung des Geräusches zu drehen, wie bei einer Katze. Das sei für sie der Beweis, eine Erinnerung
daran, dass wir nicht vergessen dürfen, bis zur Tierwelt zurückzublicken. Aber selbst meine Mutter würde nicht zugeben, dass
wir böse Menschen sind. Sie kann es nicht. Genau wie Sie. Weil Sie glauben, sie seien gut. Sie sind ein guter Mensch. Weil
Sie niemals die Möglichkeit gehabt haben, das Böse in Ihnen herauszulassen, weil das Leben Ihnen niemals Gelegenheit dazu
gegeben
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