Todes Kuss
großzügig von Ihnen, mir zu vergeben. Doch nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Was haben Sie vor?“
„Ich habe eine Verabredung um sechs und wollte vorher bei Frascati hereinschauen. Ich liebe das Gebäck, das sie dort herstellen.“
„Darf ich Sie begleiten?“
„Warum nicht?“ Ich war jetzt ziemlich sicher, dass Andrew ihn geschickt hatte. Offenbar hatte Caravaggio im Moment so viel zu tun, dass er andere bitten musste, auf mich achtzugeben. „Ich erwarte allerdings, dass Sie nicht über Themen reden, zu denen wir gegensätzliche Ansichten vertreten.“
„Philip?“
„Ja. Vielleicht ist er wirklich tot. Doch solange ich nichts Genaues weiß, möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass er noch leben könnte.“
Colin wartete, bis Meg mir in den Mantel geholfen hatte, reichte mir den Arm und verließ mit mir das Hotel. Wir schlenderten in Richtung der Konditorei Frascati. Dabei bemühte ich mich, von Colin so viel wie möglich über Andrew zu erfahren. Doch entweder wollte er mir keine Auskunft geben oder ich ließ mich zu leicht ablenken – jedenfalls war der Erfolg sehr bescheiden. Nur gut, dass es sich stets lohnte, bei Frascati einzukehren. Während wir unsere Obsttörtchen mit Genuss verspeisten, unterhielten Colin und ich uns über die Tücken der griechischen Sprache. Hargreaves schien gut zu verstehen, warum mir die Texte nicht gefielen, die mein Lehrer in London mir empfohlen hatte. Er betonte aber auch, dass gerade die Lektüre von Xenophons Werken eine hervorragende Vorbereitung auf Homers Ilias und Odyssee sei.
Als wir wieder auf die Straße traten, war es merklich kühler geworden. Colin schlug vor, eine Droschke zu nehmen. Aber ich wollte lieber zu Fuß gehen – was ich bald bereute. Zwar ging ich so dicht neben Colin, dass ich meinte, seine Körperwärme spüren zu können. Doch diese Nähe rief mir auch in Erinnerung, wie er mich auf der Pont Neuf an sich gezogen und geküsst hatte. Es war sehr beunruhigend, daran zu denken …
Um mich abzulenken, versuchte ich wieder einmal, mir das Wiedersehen mit Philip auszumalen. Vergeblich! Ich konnte mir höchstens vorstellen, wie wir zu dritt – Philip, Colin und ich – in der Bibliothek saßen und über das antike Griechenland diskutierten. Gewiss hätten wir unterhaltsame, angenehme Abende miteinander verbringen können, wenn … Es gab so entsetzlich viele Wenns!
Zum Glück erreichten wir das Hotel, ehe ich in tiefe Melancholie versinken konnte. In der Eingangshalle des Meurice verabschiedete ich mich von Colin. Dann eilte ich nach oben in meine Suite, um mich auf das Treffen mit Andrew vorzubereiten. Während Meg mir beim Umkleiden half, berichtete ich ihr, was ich vorhatte. Sie zeigte sich besorgt, aufgeregt und voller Tatendrang. Dass ich mich mit einem Verbrecher einließ, behagte ihr gar nicht. Trotzdem sollte er natürlich seine gerechte Strafe erhalten. Ich glaube, Meg war auch ein wenig stolz auf mich, weil sie davon überzeugt war, ich hätte Andrew so verzaubert, dass ich alles von ihm verlangen könne. Auf jeden Fall versprach sie, mich nach Kräften zu unterstützen.
Dann schlug die Uhr sechs, und pünktlich klopfte Andrew an die Tür. Er trug Abendkleidung und sah sehr elegant und männlich aus. Seine Miene allerdings verriet, dass er befürchtete, ich würde ihm aufs Neue Vorwürfe wegen der Fotografie machen. Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und beobachtete ihn dann schweigend. Auf den ersten Blick war er ganz der selbstbewusste zuvorkommende Gentleman, der sich zwar nicht an alle gesellschaftlichen Konventionen hielt, jedoch fest an Recht und Ordnung glaubte und die Gesetze ernst nahm. Auf den zweiten Blick bemerkte man, dass er sehr gekonnt eine Rolle spielte, von der er sich persönliche Vorteile erhoffte. Alles, was er musterte, schien er auf seinen finanziellen Wert zu prüfen. Auch die Menschen, mit denen er es zu tun hatte, prüfte er im Hinblick darauf, wie sie ihm von Nutzen sein konnten.
„Geht es Ihnen gut, Lady Ashton?“, fragte er schließlich.
„Ja, danke.“ Ich senkte den Kopf und biss mir auf die Unterlippe. „Nein, es geht mir nicht gut. Da ich von Ihnen Offenheit verlangt habe, darf ich nicht unehrlich sein.“
„Habe ich Sie schon wieder irgendwie gekränkt?“ Andrews Miene verriet seine Ungeduld.
„Sie? Aber nein! Was Sie getan haben, erscheint mir im Moment so … unwichtig. Ich würde mich vielleicht sogar entschuldigen, wenn …“ Ich unterbrach mich und hob kurz den
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