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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gesagt: mit Migrationshintergrund. Aber das klingt so pauschal.« Der junge Lehrer setzte einen Fahrradhelm auf. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    »Vielen Dank!«
    »Dann wollen wir mal hoffen, dass es nichts Schlimmes ist   …« Damit war er auch schon aus dem muffigen Lehrerzimmer verschwunden.
    Peer Wasmuth folgte ihm. Wencke verabschiedete sich von der Lehrerin, kritzelte ihre Telefonnummer auf einen Notizzettel und legte ihn auf einen Stapel Mathehefte, über den die Lehrerin sich zwischenzeitlich gebeugt hatte. »Wenn Ihnen oder Ihren Kollegen noch etwas einfallen sollte   …« Nach einem abwesenden Nicken verließ auch Wencke den Raum.
    Sie hatte ein übles Gefühl. Auf dem Küchentisch der Familie Talabani hatten drei Frühstücksbrettchen gelegen, eines davon unbenutzt. Was war heute Morgen in der kleinen Kellerwohnung geschehen, in der die tote Mutter hinter einer verschlossenen Tür gelegen hatte? Die Kinder schienen nichts von der Katastrophe bemerkt zu haben, sie machten sich selbstständig das Frühstück und gingen in die Schule. Das Brettchen, das sie für ihre Mutter gedeckt hatten, blieb unberührt. Doch wie passte es ins Bild, dass der kleine Azad seine Sachen gepackt hatte und gegen Mittag mit seiner Schwester zum Vater gegangen war? Die Kinder mussten entweder doch etwas mitbekommen haben, was schwer vorstellbar war, wenn der Junge sich ansonsten unauffällig verhalten hatte. Oder jemand hatte ihnen gesagt, was sie tun sollten. Aber wer? Vielleicht die Mutter, weil sie bei dem Gespräch mit Wencke und Peer Wasmuth ungestört sein wollte. Oder jemand aus der Familie, der Vater selbst, die Großeltern, der Onkel   …
    Der Täter musste unbemerkt in die Wohnung gelangt sein, denn es gab keinerlei Einbruchsspuren. Hatte Shirin Talabani ihm die Tür geöffnet? Oder war er im Besitz eines Zweitschlüssels? Alles sprach dafür, dass der Täter sich in der Wohnung auskannte oder zumindest mit deren Bewohnern vertraut war. Klar, Wencke dachte an den Bruder, an Armanc Mêrdîn, den smarten Jungen, der ihr gestern seine Geschichte erzählt hatte. Vielleicht war er in dieser Nacht aufgebrochen, um seinen geplanten Mord endlich zu vollenden. Aber hätte Shirin ihrem Bruder tatsächlich die Tür geöffnet?
    »Fürchteten die Kinder sich eigentlich vor dem Rest der Familie?«, fragte Wencke, als sie vom Schulparkplatz fuhren und Wasmuth den Schildern nach Hannover folgte.
    »Shirin hat immer versucht, die beiden aus dem Drama herauszuhalten. Aber Roza war ohnehin traumatisiert. Seitdem der Unfall ihr Gesicht entstellt hat, zog sie sich zurück, trug sogar den Schleier, sehr zum Missfallen ihrer Mutter   …«
    »Trotzdem hat sie ihren Vater besucht?«
    »Natürlich. Moah Talabani hat ja mit dem Mordanschlag nichts zu tun, zumindest nicht direkt.«
    »Aber ist er nicht auch in seiner Ehre gekränkt worden? Ich meine, Männer, die Mordgedanken gegen ihre Frauen hegen, weil sie von ihnen verlassen oder betrogen wurden, sind ja auch in unserem Kulturkreis zu finden. Ich hatte mal einen Fall hier ganz in der Nähe, im Teutoburger Wald. Da hat ein Mann seine Frau sogar bis ins Kurheim verfolgt, weil sie sich von ihm trennen wollte, und dieser Mann war Deutscher   …«
    »Ja, natürlich werden Herr Talabani und seine Familie sich gedemütigt fühlen. Aber für die Ehrverletzung, die Shirin sich hat zuschulden kommen lassen, ist ihre Ursprungsfamilie zuständig. Weil sie sich nicht so verhalten hat, wie man es von ihr erwartet, weil sie Regeln gebrochen hat und schamlos war – diese Schande wird den Eltern und Geschwistern, sogar denOnkels und Cousins gemacht, weil sie eine solch verdorbene Frau in ihrer Mitte großgezogen haben. Sie alle werden dafür zur Verantwortung gezogen. Sehen Sie, man kann das nicht mit unseren Werten vergleichen. Die Ehre zählt bei den Kurden und Türken mehr als alles andere   …«
    »Mehr als das Leben?«
    Er nickte. »Es gibt im Türkischen wesentlich differenziertere Begriffe für Ehre –
Şeref
ist beispielsweise das Ansehen, das sich ein Mann in einer Gemeinschaft erarbeitet hat, durch Vermögen, Arbeit oder Frömmigkeit   – Frauen können diese Art von Ehre niemals erwerben, sie ist eine reine Männersache.
Saygı
steht für Respekt und Gehorsam, den man dem Familienoberhaupt, dem Patriarchen, schuldet. Was der Vater, der Onkel oder der älteste Bruder sagt, wird nicht infrage gestellt, ist unfehlbares Gesetz.
Namus
aber ist die wichtigste Form von Ehre  

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