Todesbraut
Straße, vorbei am Eingang eines großen Hotels, dann bog Yıldırım in eine Seitengasse ein.
Wencke begann, sich eine Antwort zurechtzulegen, es würde schwer sein, einer solchen Frau etwas Halbgares zu servieren, also entschied sie sich für die Wahrheit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Shirin Talabani von ihrem Bruder ermordet wurde. Und ich habe Sie aufgesucht, weil ich hoffte, Sie würden mir ein weiteres Treffen mit Armanc Mêrdîn ermöglichen.«
»In Ihrer Funktion als forensische Wissenschaftlerin des LKA? Oder als außerordentliche Ermittlerin?«
»Als beides«, gab Wencke zu.
»Und aus welchem Grund zweifeln Sie am sogenannten Ehrenmord?«
»Es passt nicht. Da Sie als Anwältin bereits Akteneinsicht bekommen haben, können wir ja Klartext reden: Shirin Talabani ist – so würde ich es auf den ersten Blick vermuten – erwürgt worden. Das ist eine sehr unmittelbare Mordmethode, verstehen Sie? Näher kann ein Mörder seinem Opfer kaum kommen. Er muss ihm dabei direkt in die Augen schauen, und der Todeskampf dauert schrecklich lange …«
»Und das trauen Sie dem Bruder der Toten nicht zu?«
»Dem Töten durch Erwürgen liegt normalerweise entweder ein besonders kaltblütiges oder ein besonders leidenschaftliches Motiv zugrunde. Für kaltblütig halte ich Armanc Mêrdîn keinesfalls. Und für die nötige Leidenschaft ist einfach zu viel Zeit verstrichen: es ist drei Jahre her, seit seine Schwester die Ehre der Familie beschmutzt hat!«
»Aber nach dem Gespräch mit Ihnen war er wieder sehr aufgeregt«, gab Yıldırım zu bedenken. »Vielleicht war das der Auslöser?«
»Das hoffe ich nicht!« Zugegeben, darüber nachgedacht hatte Wencke auch schon. »Davon abgesehen passt der Mord nicht zu der Tötungsart, die er bei seinem missglückten Versuch vor drei Jahren gewählt hat. Da saß er im Auto, gemeinsam mit einem Cousin, der ihn zusätzlich angestachelt hat. Es war eine Menge Abstand zwischen ihm und seiner geliebten Schwester und er konnte das Unglück noch irgendwie als Fahrfehler oder Unfall abtun. Aber wenn man eine schlafende Person fesselt und ihr dann mit bloßen Händen den Hals zudrückt, ist das eine ganz andere Liga.«
»Das habe ich auch so gesehen. Trotzdem hat Armanc ein umfassendes Geständnis abgelegt, ich konnte ihn nicht daran hindern.«
»Mit allen Details?«
Yıldırım nickte. »Er konnte sogar die Farbe der Tücher beschreiben, mit denen er Arme und Beine fixiert hatte.«
Wencke atmete scharf aus. Wenn ein Verdächtiger die Einzelheiten in einem Fall wusste, dann stand er für die Kripo als Täter felsenfest, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Warum sollte nun noch jemand zweifeln, dass Armanc Mêrdîn der Mörder war? Und umgekehrt: Warum war es ihr selbst unmöglich, daran zu glauben?
Sie blieben vor einem grauen Mietshaus stehen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Wencke, dass sich hinter den Schaufenstern im Erdgeschoss eine Änderungsschneiderei befand. Das Ladenlokal war dunkel, schmucklos und menschenleer. An der Tür klebte ein Blatt Papier. »Wegen Trauerfall geschlossen«, darunter ein weiterer Satz, wahrscheinlich dasselbe auf Türkisch. Die Tür neben dem Bügelautomaten war angelehnt und durch einen bunten Perlenvorhang fiel dämmriges Licht.
»Die Talabanis wohnen in den Hinterzimmern. Moah Talabani, außerdem seine verwitwete Schwester mit zwei fast erwachsenen Kindern. Soweit ich es einschätzen kann, auf knapp hundert Quadratmetern ohne Garten und Balkon. Zudem haben sie eigentlich ständig Besuch aus der Heimat. Und bis vor drei Jahren hat Shirin mit Azad und Roza auch noch hier gelebt. Wäre er wohlhabend, wie Sie vermuten, dann hätte er sich längst eine andere Bleibe gesucht.« Sie klingelte.
»Wir gehen zu ihnen?«
»Ja, warum nicht?«
»Weil …« Wencke fühlte sich ein wenig überrumpelt und fehl am Platz. Sie hatte eher damit gerechnet, heimlich durch die Fenster zu schielen und Mutmaßungen anzustellen. Aber gleich in die Höhle des Löwen? »Sie sind die Angehörigen des Opfers – und Sie vertreten den vermeintlichen Täter!«
»Das war schon damals, beim ersten Verfahren, kein Grund,sich aus dem Weg zu gehen. Ich kenne die Familie Talabani recht gut. Genau genommen kennen sich hier in Hannover und Umgebung alle Kurden. Gerade wenn ich derzeit juristisch eher auf der Gegenseite stehe, bin ich einen Trauerbesuch schuldig.«
»Sollen wir da wirklich reinplatzen? Ich meine, das Schild an der Tür …«
»Wir Kurden
Weitere Kostenlose Bücher