Todesbraut
Axel Sanders trug sein Handy immer in der Brusttasche seines Jacketts.
»Wencke? Deine Nummer auf meinem Display … Du bist es doch, oder?«
»Ja.«
»Was …?«
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
… Liebestaube …
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
Noch fünfzehn Kilometer, zeigt der Navigator.
Neben der Autobahn macht sich der Flugplatz breit. Riesige Maschinen erheben sich in den Himmel, der schon dunkel wird. Hannover Airport ist ein Ort, an dem man viele Ziele haben kann. Fast die ganze Welt ist via Luftlinie mit diesem Flecken in der norddeutschen Tiefebene verbunden.
Doch eine Fahrt von Aurich nach Hannover kann auch eine Weltreise sein. Nicht wegen der Kilometer. Sondern eher, wenn der Grund für diese Fahrt eine einschneidende Bedeutung hat, sodass man beim Aufbruch noch ein anderer ist als der, der drei Stunden später ankommt. Nie hat er seine Frau angelogen. Und seine freien Tage sind normalerweise heilig. Aber heute hat er etwas von kurzfristigen Verpflichtungen gefaselt, geheime Ermittlung, selbst die Auricher Kollegen wüssten nicht Bescheid, er könne sich doch auf ihre Diskretion verlassen? Und die vier freien Tage würde er sich ein anderes Mal nehmen. Kerstin hat kaum nachgefragt, sie ist nicht skeptisch und macht ihm das Leben und den Job nicht schwer. Genau deswegen ist das, was er hier macht, ein starkes Stück. Eine handfeste Lüge.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?« Diese Frage.
Von mehr als fünfzig Briefen keinen beantwortet zu bekommen ist grausam. Der Absender weiß nicht, ob die Kuverts angekommen sind, ob die Briefe geöffnet und die Zeilen gelesen wurden. Nichts weiß er.
Er fühlt sich, wie Noah sich damals gefühlt haben mochte, als die Arche auf dem Gipfel des Ararat festsaß und er denRaben fliegen ließ, um zu wissen, ob schon irgendwo Land zu finden war. Doch der schwarze Vogel kehrte nicht zurück. Das konnte alles bedeuten. Vielleicht hatte das Tier einen Ort gefunden, an dem es so schön und grün und trocken war, dass es einfach keine Lust hatte, zur Arche zurückzufliegen. Oder der Rabe war abgestürzt, hatte sich die Flügel gebrochen, war zur Mahlzeit eines Raubtieres geworden. Noah erfuhr es nicht. Ihm blieb nichts als zu warten, voller Sehnsucht nach festem Boden unter den Füßen und einem Beweis, dass die Erde wiederhergestellt war.
Dann, eine Woche später, hatte Noah die Taube losgeschickt. Und sie trug am Abend bei ihrer Rückkehr einen frischen Olivenzweig im Schnabel. Noahs Erleichterung muss grenzenlos gewesen sein.
Der Anruf an diesem Abend ist wie ein Olivenzweig. Ein Lebenszeichen vom Rest der Welt.
Also ist er losgefahren. Auf eine Weltreise von Aurich nach Hannover.
Nur wegen dieser Frage.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
6.
Kurzschlussreaktionen waren Wenckes Spezialität. Sie war Meisterin darin, aus dem Bauch heraus irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, von denen sie sich die rasche Verbesserung einer brenzligen Lage versprach – und die ihr nur wenige Stunden später jede Menge Magenschmerzen bereiteten.
Was in Dreiteufelsnamen hatte sie sich dabei gedacht, ausgerechnet Axel Sanders anzurufen? Erhoffte sie wirklich nicht mehr als ein paar polizeiinterne Informationen aus seinemMunde? War sie denn tatsächlich aufgeschmissen in diesem Fall, brauchte sie wirklich seine Hilfe? Nein, wenn sie ehrlich war, wollte sie ihn wiedersehen. Obwohl sie sich davor fürchtete. Sie hatte fast mehr auf eine Absage gehofft, doch den Gefallen hatte er ihr nicht getan.
Wer hatte damit rechnen können, dass Axel nichts Dringenderes vorhatte, als direkt ins Auto zu steigen und Richtung Hannover zu fahren? Das war nicht geplant gewesen, noch dazu war es ihr ein Rätsel, wie er das wohl seiner Frau gegenüber hingedreht hatte.
Emil schlief seit einer Stunde. Wencke hatte ihrem Sohn nichts vom anstehenden Besuch erzählt, sonst wäre er vor lauter Vorfreude kaum zur Ruhe gekommen. Vor fünf Jahren hatten sie eine Zeit lang zu dritt in einer Zweck-Wohngemeinschaft gelebt und Axel war seitdem so etwas wie ein väterlicher Freund für Emil, dessen biologischer Erzeuger nie groß in Erscheinung getreten war. Und auch wenn sie sich drei Jahre nicht gesehen hatten, konnte ihr Sohn sich noch daran erinnern, wie schön es mit Axel gewesen war. Er erzählte noch immer davon, wie sie gemeinsam am Deich die Schafe gejagt hatten und von dem Gewitter, in das sie danach geraten waren. Axel war der Mensch, den Emil in Amerika am meisten vermisst
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