Todesbraut
hatte.
Zugegeben, bei Wencke verhielt es sich nicht viel anders. Aber bei ihr war die Sache ungleich komplizierter. Seit knapp zehn Jahren ahnte sie, dass Axel mehr für sie war als ein Kollege, Mitbewohner oder Freund. Trotz der Gegensätze, die sie bildeten, trotz aller Streitereien, die sie deswegen bereits ausgefochten hatten. Doch als sie endlich bereit gewesen war, sich ihr Herzklopfen einzugestehen, hatte eine andere Frau das Rennen gemacht. Und diese Frau war unantastbar. Nicht nur, weil sie schön war – schön und klug und schlank und freundlich –, sondern in erster Linie, weil sie blind war. Durch einen Unfall, an dem auch Wencke ihren Anteil gehabt hatte. UndAxel war kein Mensch, der eine behinderte Frau sitzen ließ. So sah es aus, das waren die Tatsachen.
Wann kam er endlich?
Seit einer halben Stunde stand Wencke nun schon am Fenster und schaute hinaus. Man konnte die Straße nicht sehr weit einsehen. Vielleicht parkte er auch etwas weiter vorn, es war nicht so leicht, hier einen Platz für das Auto zu finden. Ob er sich wohl verändert hatte? Schlips und Sakko und gründlich rasiert, ein Gang wie ein Jurastudent mit Einserabi, so würde er gleich durch das Gartentor treten. Und vielleicht nach oben schauen. Sie hatte ihm erzählt, dass sie im Dachgeschoss wohnte.
Warum hatte sie ihm eigentlich auf keinen seiner Briefe geantwortet? Danach würde er früher oder später zweifelsohne fragen. Es machte Wencke nervös, wenn sie daran dachte. Die Antwort war so lapidar – weil sie ihn vergessen wollte –, da war es eindeutig besser zu schweigen. Gott, ihr war übel.
Überhaupt hatte der Tag ihr mächtig zugesetzt. Leichenfund und Verfolgungsjagden, dazu ein handfester Streit mit der neuen Chefin und nun diese Warterei. Alles für sich genommen schon heftig genug, alles zusammen in zwölf Stunden fast unerträglich. Wenckes Hände und Füße waren aufgeschürft wie bei Emil, wenn der mal wieder ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Spielplatz getobt hatte. Zudem hatte sie gerade eben unter der Dusche bemerkt, dass die Glassplitter ihr beim Klettern durch Shirin Talabanis Schlafzimmerfenster durch die Jeansjacke hindurch Linien auf die Haut gezeichnet hatten – ihre Rückenansicht glich dem U-Bahn -Netz von Berlin.
Frische Luft, dachte sie. In der Abenddämmerung war das Klima wunderbar, sie würde nur ein paar Schritte vor das Haus machen müssen, um sich dann mit einem Glas Wein auf die verrottete Bank im Vorgarten zu setzen, den zugewuchertenSeitenkanal in Sichtweite, ein paar Mücken auf dem Unterarm. Das würde auch einen netten Anblick geben, wenn Axel endlich kam. Besser jedenfalls, als wenn er sie dabei erwischte, wie sie ungeduldig hinter den Gardinen nach ihm Ausschau hielt.
Vorsichtig schob sie ihre schmerzenden Füße in die Turnschuhe, die sie nach ihrem Besuch im Hause Talabani nicht mehr angezogen hatte, auch wenn sie als Barfuß-Frau ein Hingucker für die anderen Straßenbahnfahrer und eine ziemlich peinliche Angelegenheit für Emil gewesen war. Erst dachte sie, die Einlegesohle hätte sich verschoben, und sie stocherte im Inneren des Schuhs herum, bis sich ein zusammengefalteter Zettel zwischen ihre Zehen schob. Wencke holte das Fundstück hervor. Ein Brief? Jemand hatte ihr eine Nachricht zukommen lassen, als sie ohne Schuhe hinter dem Auto her gerannt war. Eine kleine, heimliche Botschaft von jemandem, der sich nicht getraut hatte, ihr etwas direkt zu sagen. Das konnte ein gutes oder auch ein sehr schlechtes Zeichen sein. Gerade, als sie das mehrfach geknickte Papier in die Hand nahm, gab die Klingel einen langen, kreischenden Ton von sich, fast wie ein Hilfeschrei, und erst jetzt fiel Wencke auf, dass dies das erste Mal war, dass an ihrer Tür geschellt wurde.
Sie stand auf, den einen Fuß im Schuh, den anderen nicht, in der Hand einen ungeöffneten Brief. So stolperte sie die Treppe hinunter, da es in diesem Haus keinen elektrischen Türöffner gab. »Hallo!«
Er war nicht merklich älter geworden, was waren schon drei Jahre für einen Mann, der regelmäßig joggte und den besten Friseur Ostfrieslands besuchte? Aber er schien dünner zu sein, oder nicht? Ein weißes Hemd, eine dunkelblaue Jeans, sonst hatte er nur Stoffhosen getragen, wollte er etwa jünger wirken? Und der Ring aus mattem Silber, der war definitiv neu an seiner Hand, soweit sie wusste, hatte er erst vor einem Jahr geheiratet.
Er hatte einen Blumenstrauß mitgebracht, und das war gut so. Die weißen
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