Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Wencke nicht zu überrollen. »Bekloppt?«, fragte einer von ihnen.
    Ja, wahrscheinlich war Wencke bekloppt. Der Typ hatte sich beeilt und das Parkplatzchaos war sein Vorteil gewesen. Zwar rannte er nicht, wahrscheinlich hoffte er noch immer, unerkannt geblieben zu sein, und wollte sich nicht durch eine allzu hastige Flucht verraten. Doch sein schneller Gang hatte ihm sicher schon dreißig Meter Vorsprung verschafft.
    »Hey«, rief Wencke. »Bleib mal stehen!«
    Er kletterte flink über einen Zaun und nahm den verbotenen Weg quer über die Gleise.
    Rote Lichter blinkten, man hörte das Pfeifen eines herannahenden Zuges. Der Butterblonde schaute sich um, das höhnischeGrinsen war unübersehbar. Die Schienen gaben ein zeterndes Geräusch von sich, als litten sie unter dem herannahenden Gewicht des Regionalzuges, aber der Typ ließ es darauf ankommen, sprintete los, blieb vom energischen Alarm des Zugführers unbeeindruckt. Kaum hatte er das rettende Ufer jenseits der Gleise erreicht, schlüpfte er durch eine zerfranste Hecke. Es war sinnlos, hinterherzurennen, denn sieben sich in den Bahnhof schiebende Doppeldeckerwaggons versperrten nun den Weg.
    Wencke kickte einen Stein gegen den Zaun. »Dämlicher Möchtegerndetektiv, und ich blöde Kuh bin nicht in der Lage, ihn zu erwischen!«
    Axel stellte sich neben sie. »Wie kommst du darauf, dass er unseretwegen hier war?«
    »Warum wäre er denn sonst abgehauen?«
    »Vielleicht ein lausiger Dealer oder so. Sah mir nach Drogenszene aus. Die rennen doch vor jedem weg, der ihnen länger als nötig in die Augen schaut.«
    »Das glaube ich nicht. Der hat uns beobachtet. Ganz sicher.«
    Axel schüttelte den Kopf. »Hör auf. Du siehst Gespenster. Komm mit zum Auto, Wencke. Wir haben einen Termin in der JVA.«
    Doch sie blieb stehen, noch einen kurzen Moment, starrte auf die Stelle jenseits der Gleise, wo der Buttergelbe verschwunden war. Und wurde ihr ungutes Gefühl nicht los. Mal wieder nicht.

… Federwölkchen   …
    Da draußen, hinter den Gitterstäben und vor der Unendlichkeit des Himmels, zieht das Flugzeug einen schnurgeraden Kondensstreifen ins Blau. Kurz blitzt eine winzige Reflexion des Sonnenlichts, die Strahlen haben eines der Fenster getroffen. Dahinter sitzt ein Passagier und macht sich keine Gedanken darüber, wie klein die Welt sein kann, wenn man in einem Haftraum sitzt, sechs Quadratmeter und ein Blick nach draußen, kaum größer als DIN-A 4-Format .
    Der Flieger ist Richtung Süden unterwegs. Schon weit in der Luft. Wahrscheinlich in Hamburg gestartet. Wahrscheinlich wird er nicht in der Türkei landen. Wahrscheinlich hatte dieser stählerne Vogel nichts zu bedeuten für die Familie, niemand saß darin, um das Begräbnis vorzubereiten oder zu fliehen vor den deutschen Gesetzen, die keiner verstand. Ein völlig fremdes Flugzeug.
    Als er klein war, hat er seine große Schwester gefragt, was diese weißen Streifen da oben zu bedeuten hätten. Ein Kreidestrich Allahs?
    Shirin fand das lustig.
    Dann erklärte sie, es sei ein Flugzeug, ganz weit oben, auf dem Weg sonstwohin, vielleicht in die Türkei, darin säßen Menschen, die könnten auf unsere Stadt gucken und ihnen käme es vor wie ein Spielzeugland und dann lehnten sie sich zurück und tränken Tomatensaft. So hätte sie das zumindest mal im Fernsehen gesehen.
    Der kleine Bruder hatte alles verstanden und weiter in den Himmel gestarrt.
    Ein Flugzeug. Der weiße Strich ist ein Flugzeug.
    Irgendwann wird das Wölkchen dünner, zerfranst zu einer faserigen Schnur, zu zerfetzten Flocken, zu nichts.
    Als er klein war, dachte er immer, jetzt stürzten die Leute ab, weil das Flugzeug sich aufgelöst hatte. Und er sah die Menschen fallen. Mit ihren Tomatensäften in den Händen rasten sie auf die Erde zu und begegneten sorgenfrei dem Spielzeugland, bis sie erkannten, dass es die echte Welt war und sie gleich am Boden zerschmettern würden.
    Irgendwann fällt mir so ein Mensch vor die Füße, hatte der kleine Junge gedacht, so ein Passagier aus dem Wolkenflugzeug.
    Als Meryem, seine zweite Schwester, damals in die Türkei geflogen ist, endgültig und für immer, da hatte er sogar gehofft, sie würde abstürzen. Alles ist besser, als das Leben, für das sie sich entschieden hatte. Nie wieder hat er von ihr gehört. Aber er weiß, irgendwo in dieser Heimat, die keine ist, irgendwo da kämpft Meryem, wenn sie nicht schon längst getötet worden ist.
    Seine Schwestern haben alles falsch gemacht. Sie haben nichts

Weitere Kostenlose Bücher