Todesbraut
ein. »Ich suche meinen Sohn Emil!«, versuchte Wencke es, und ihre Stimme überschlug sich und sie hörte selbst, wie schrill sie klang. Verdammt, sie war sich so sicher gewesen, hier richtig zu sein. Sie hatte es so gehofft. »Er sieht aus wie Rozas Bruder, Azad Talabani!«
Zwei jüngere Frauen kamen auf sie zu, griffen sie am Arm, redeten auf sie ein, wahrscheinlich beschimpften sie Wencke. Doch sie wollte sicher sein, wollte jeden Zweifel ausschalten, also befreite sie sich mit einem geübten Griff, stürzte zu Boden, nahm eine Ecke des roten Stoffes und riss ihn mit einem Ruck zur Seite. Die darunter kauernde Frau war zweifelsohne sehr jung, bebte am ganzen Körper und verbarg ihr Gesicht in den Armbeugen. Die hysterischen Schreie der anderen Frauen hörte Wencke gar nicht, sie schob sich vor zur Braut, versuchte, mit behutsamer Geste den Kopf anzuheben, Stück für Stück. Zum Vorschein kamen zwei Augen, die in Tränen schwammen, eine rote Nase und zitternde Lippen, zum Vorschein kam das Gesicht eines völlig verängstigten Mädchens, kaum älter als sechzehn. »Roza?«
Die Angesprochene schüttelte langsam den Kopf, schluchzte, flüsterte: »Aishe«. Da hatte Wencke schon längst begriffen, dass sie hier falsch war: die Haut war makellos, keine Narbe verunstaltete das Gesicht der jungen Frau, die Kiefer standen gerade, und in dem Mund zeigten sich zwei Reihen gesunder, weißer Zähne.
Sie hatte sich getäuscht, ihre Intuition war ihr untreu geworden und hatte sie in diese missliche Lage gebracht. »Es – es tut mir so leid!«, flüsterte Wencke, dann erhob sie sich, schaute die entsetzten Frauen an, wiederholte ihre Entschuldigung und verließ das Zimmer, das Haus.
Wasmuth lehnte an der Mauerwand gegenüber und begriff sofort, was geschehen war. »Lassen Sie uns so schnell wie möglich verschwinden«, zischte er. »Sie haben soeben ein wichtiges Ritual gestört. Es kann sein, dass Sie gleich eine ganze Sippe aufgebrachter Familienmitglieder am Hals haben. Ich hatte Sie ja gewarnt …«
»Halten Sie einfach die Klappe, verdammt noch mal!« An die Gurgel hätte sie ihm springen können, sein Geschwätz wardas Letzte, was sie gerade brauchte, denn die Verzweiflung war dabei, sie in den Boden zu stampfen. »Warum haben Sie in der Moschee auch keine Nachnamen in Erfahrung bringen können?«
»Was hätte uns das gebracht? Erstens ist in dem Brief kein Familienname erwähnt, und dass unser Rafet wie sein Onkel Talabani heißt, ist doch überhaupt nicht gesagt. Zweitens benutzt in der Türkei kaum jemand Nachnamen. Sie sind in diesem Land nämlich eine relativ moderne Angelegenheit und wurden von Atatürk eingeführt, um sich so den westlichen Gepflogenheiten …«
Jetzt hielt Wencke es beim besten Willen nicht länger aus. »Es ist mir gelinde gesagt scheißegal, wann wer wie was eingeführt hat, ich will nur …«
Wasmuth blitzte sie an, als habe sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Mir ist glasklar, was Sie wollen, Frau Tydmers. Und ich setze alles daran, damit Sie Ihren Emil finden, glauben Sie mir. Doch wenn Sie weiterhin durch die Stadt wirbeln wie ein Tornado, dann sehe ich schwarz!« Er starrte sie an, sie starrte zurück. Im Grunde hatte er recht. Sie hatte soeben eine völlig harmlose Familie bei einem sehr intimen Ritual gestört. Und im Normalfall wäre ihr das sicher von Herzen unangenehm gewesen. Doch die Angst um Emil brachte sie langsam um den Verstand. Das konnte ein Mann wie Wasmuth natürlich nicht begreifen. Sie war dennoch die Erste, die dem Blick nicht mehr standhalten konnte. Wütend hastete sie weiter voran.
Der Weg durch die enge Gasse wurde von einem parkenden Lieferwagen versperrt, ein Obsthändler warf gewaltige Wassermelonen in einen Ladeneingang, wo sie von einem älteren Mann aufgefangen wurden. Die Geschäftsleute ließen sich Zeit, lachten und sangen zur Musik, die aus dem Geschäft zu hören war. Über ihnen war der Blick zum Himmel mit bunter Wäsche geschmückt, die an der Leine quer über die Straßehing. Wencke und Wasmuth drängten sich eng an der Hauswand entlang, um ihren Weg fortzusetzen.
»Geben Sie mir bitte Ihr Handy!«, bat sie ihn, nachdem die geschätzten hundert wortlosen Schritte zur Deeskalation reichen mussten.
»Warum?«
»Es wundert mich einfach, dass sich noch niemand für mich gemeldet hat. Ich erwarte einige wichtige Informationen von meinen Leuten in Hannover. Außerdem will ich wissen, wie es Frau Yıldırım geht.«
Umständlich holte er
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