Todesbrut
…«
Carlo hörte ihr nicht länger zu. Er sah, dass André Müller grinste und Steffen, dem Modemacher, zuzwinkerte: »Oh, der große Frauenversteher hat Zoff! Langsam merken die Ladys, dass er nichts weiter ist als ein Blender.«
Als kleiner Junge hatte Carlo ein Aquarium besessen. Ein Schwarm Neonfische und Guppys, zwei rote Schwertträger und dazu eine Saugschmerle, die er »mein fleißiger Scheibenputzer« nannte, denn die Schmerle saugte sich an der Scheibe fest und graste die Algen ab. Sie war lange Zeit sein Lieblingsfisch gewesen, bis er sie eines Tages dabei erwischte, wie sie einen der Schwertträger auslutschte, der offenbar verendet war. Sie hatte gar nicht von ihm abgelassen, selbst als er den toten Fisch aus dem Wasser nahm, blieb die Saugschmerle an ihm kleben. Er hatte sie abreißen müssen. Seitdem mochte er sie nicht mehr.
Und so ähnlich kam ihm seine Beziehung zu Elfi vor. Nur das Problem war: Elfi klebte an ihm.
Er mochte plötzlich sein ganzes Leben nicht mehr. Es erschien ihm, als würde er es im Aquarium verbringen, gut versorgt in einer abgeschlossenen, künstlichen Welt. Er lebte nach Gesetzen, die nicht die seinen waren, hielt die Fütterungszeiten ein, versuchte, sich nach den irren Regeln dieser Familie zu richten, kämpfte um ihre Anerkennung und hatte sich doch längst auf der untersten Stufe der Leiter eingeordnet.
Er fragte sich, was ihn daran hinderte, einfach zu gehen.
Die Erkenntnis traf ihn völlig unvorbereitet: Er liebte seine Frau nicht mehr.
Er fühlte sich in ihrer Gegenwart eingeengt und unwohl. Er hätte nicht einmal mehr genau sagen können, warum sie eigentlich geheiratet hatten. War es wirklich auch sein Wille gewesen oder hatte er einfach nur nachgegeben, weil es für sie von Anfang an völlig klar war, dass sie heiraten würden? Ihre Schwestern hatten geheiratet, sie war die Letzte und sie wollte es nun auch tun … Nur wer verheiratet war, konnte vor den Augen ihrer Eltern bestehen. Eine verheiratete Frau genoss ganz anderes Ansehen als eine unverheiratete. Sie wurde vom Mädchen, das man bevormunden konnte, zur Frau, die scheinbar einen freien Willen hatte – in Wirklichkeit aber genauso bevormundet wurde, weil sie sich an die Familienregeln halten musste. Das kam doch alles aus dem vorigen Jahrhundert und er und Elfi hatten sich brav darin eingerichtet.
Er hatte sich gerade erst gewaschen, doch schon wieder bedeckte eine dünne Schweißschicht seine Haut. Diesmal kam es nicht vom Laufen. Es war eine Art Rechtfertigungsschweiß. Angstschweiß. Ein So-etwas-darf-man-gar-nicht-denken-Schweiß.
60 Im Susemihl-Krankenhaus erlitt Dr. Maiwald einen Kreislaufkollaps, während er einer Schlaganfallpatientin einen Tropf legte. Es war erstickend heiß unter dem Atemschutzgerät. Obwohl er den Kranken predigte, viel zu trinken, hatte er selbst viel zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen. Er wollte nicht aus Bechern oder Tassen trinken, die noch nach ihm jemand anders benutzen konnte, und er traute dem Leitungswasser sowieso nicht. Aus dem Getränkeautomaten hatte er sich eine Halbliterflasche Apfelschorle gezogen, aber die steckte noch unberührt in seinem Arztkittel, mit dem Handy und einer Packung Aspirin.
Im Fallen riss er den Tropf mit um und lag vor dem Bett seiner Patientin. Sie wollte den Notruf drücken, fand aber keinen Klingelknopf, denn dies war kein reguläres Krankenzimmer. Aus Platznot war einfach ein Vorratsraum geräumt worden. Ihr infolge des Schlaganfalls gestörtes Sprachzentrum erlaubte es ihr auch nicht, um Hilfe zu rufen. Es kam lediglich ein lautes Lallen heraus.
Dr. Maiwald wurde nur gefunden, weil Schwester Inge zwei weitere Patienten ins Notzimmer schieben wollte, weg vom Flur, der zugeparkt war mit Betten. Langsam wurde es schwierig, dort mit Medikamenten oder Essenswagen von einer Station zur anderen durchzukommen.
61 Chris konnte keinen Arzt auftreiben, dafür aber einen Flugschüler vom Flugplatz Borkum. Er hatte zwar seinen A-Schein noch nicht gemacht, war aber der Meinung, in der jetzigen Situation dürfe man sich von solch bürokratischem Kleinkram nicht hindern lassen.
Er kannte Chris. Zweimal hatte er versucht, sie auf der Promenade anzubaggern, doch sie hatte ihn jedes Mal abblitzen lassen. Ihr Kriminalroman von Frank Göhre war wohl unterhaltsamer als er mit seinem Flirtversuch. Aber er hatte seine Telefonnummer auf eine Serviette geschrieben und Chris großspurig zu einem Rundflug eingeladen, falls sie Lust dazu
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