Todesbrut
möglichst wenigen Mitteln. Ja, das hatte er einmal werden wollen: ein Meister des Weglassens.
Vor seinen Augen entstand bereits der Holzschnitt. Er begann mit dem Fleischermesser. Jemand Fremdes hätte vielleicht nur eine mit dem Messer verunstaltete Tür gesehen, doch für ihn wurde jetzt eine Gestalt lebendig. Chris natürlich, wer denn sonst? Diese wunderschöne Frau, der ein Mann verfallen konnte und ein Künstler wie er sowieso.
Ihr Rücken war eine einzige schwungvolle Linie, eine Kurve, wie fürs Formel-1-Rennen gemacht. Er lief zurück, um von Weitem zu betrachten, was er schuf.
Er nahm erneut einen Schluck Whiskey. Jetzt schmeckte er wieder und das Schwindelgefühl ließ nach. Er wusste noch nicht, was er als Nächstes tun würde. Zunächst versank er ganz in dieser Arbeit. Wenn er schon nicht als Künstler gelebt hatte, so wollte er wenigstens als Künstler sterben. Statt diese schöne Frau zu zerstören, schuf er sie lieber neu. Hier, aus dieser Kieferntür in der Wohnung seines toten Kollegen.
58 Carlo Rosin hatte Leon und Bettina inzwischen verlassen. Es war ihm schwergefallen zu gehen. Er kam sich nackt vor, als er zur Familienfeier zurücklief. Er brachte nicht mal sein Auto wieder mit. Mit dem Wagen war Ulf Galle irgendwo in Emden unterwegs.
Carlo Rosin hatte keinen Versuch gemacht, seinen Wagen zurückzubekommen. Es gab keine Taxen und der öffentliche Nahverkehr war zusammengebrochen. Carlo Rosin ging zu Fuß. Er bildete sich ein, das Laufen täte ihm gut, um ein bisschen zu sich zu finden und sich zu wappnen gegen all das, was ihn gleich erwartete. Die Familienfeier erschien ihm fast gruseliger als der Ausbruch des Virus.
Er spürte ein Kratzen im Hals und hustete mehrfach. Er versuchte, es zu ignorieren, und führte es darauf zurück, dass er als Langstreckenläufer schon lange aus der Übung war. Er verlangsamte seine Schritte.
In der Wohnung machte Bettina Göschl sich Sorgen. Sie fühlte genau, dass Leon etwas unterdrückte, und das war nicht seine Sorge um die Mutter und auch nicht die Trauer um Frau Steiger. Es war der Schmerz in seinem Hals.
Er musste immer wieder einen Schluck trinken. Dann ging es für kurze Zeit besser. Doch der Hals war sofort wieder trocken, als würden darin glühende Kohlen jede Flüssigkeit verdampfen.
Leon wollte noch nicht ins Bett. Er hatte eine ganze Sammlung von Piratenfilmen auf DVD, die er Bettina unbedingt zeigen wollte. Insgeheim hoffte er, seine Mutter könnte nach Hause kommen und sie würden dann gemeinsam in der Wohnung übernachten.
»Es war ein anstrengender Tag für dich, Käpt’n«, sagte Bettina. »Willst du dich nicht lieber hinlegen, statt DVDs zu gucken?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich bin überhaupt nicht müde.«
Er unterdrückte ein Husten. Als Bettina ihn berührte, erschrak sie. Der Junge war heiß.
»Habt ihr hier irgendwo ein Fieberthermometer?«
Er schüttelte vehement den Kopf, als sei der Gedanke, sie könnten so etwas besitzen, völlig abwegig.
Im ersten Moment wollte Bettina seine Mutter anrufen, aber dann entschied sie sich dagegen und begann einfach zu suchen. Im Badezimmer wurde sie im Medizinschränkchen fündig.
Sie hielt Leon das Fieberthermometer vor die Lippen und bat ihn, es in den Mund zu nehmen. Er presste seine Lippen fest aufeinander und ging mit dem Kopf so weit wie möglich nach hinten.
»Was ist? Das tut doch nicht weh.«
Es war ihm peinlich, aber er sagte es trotzdem. Piraten können sagen, was sie denken. Kleine Jungs von heute manchmal nicht, dachte er.
»Wir … wir stecken uns das sonst immer in den Hintern, nicht in den Mund.«
Bettina lachte und ihr Lachen tat ihm gut.
»Kannst du das schon selber?«, fragte sie.
Er nickte.
Sie sah jetzt starr auf den Piratenfilm, während er sich selbst das Fieber maß. 39,2.
Bettina beschloss, ihm kalte Wadenwickel zu machen, und forderte ihn auf, viel Flüssigkeit zu trinken. Er tat alles, was sie sagte, und war erleichtert, als sie den Fernseher ausschaltete, denn die Farben flimmerten bereits vor seinen Augen.
Jetzt schüttelte ihn ein Hustenkrampf. Es ging rapide bergab mit ihm.
Bettina machte ihm weiter Wadenwickel und kühlte dann seine Stirn und die Handgelenke. Dann nahm sie ihre Gitarre Gitti und spielte für ihn ganz leise ein Schlaflied. Er wünschte sich »Leuchtfeuer in der Nacht«. Sie stimmte es an.
Leon schloss die Augen. Durch seine geschlossenen Wimpern drangen Tränen. Sie liefen über sein Gesicht, sie tropften
Weitere Kostenlose Bücher