Todesbrut
Grad Körpertemperatur.«
»Die meisten Menschen allerdings auch nicht.«
Bettina Göschl fragte sich, ob Frau Dr. Husemann irgendeine esoterische Naturheilkundlerin war, die versuchte, ihr eine absurde Theorie zu verkaufen. Aber etwas von dem, was sie sagte, leuchtete ihr völlig ein. Im Grunde sah die Frau aus, als könnte sie selbst längst Hilfe gebrauchen.
Die Ärztin legte eine Packung Tamiflu auf den Tisch. »Das ist die letzte«, sagte sie. »Ich habe sie verwahrt für …« Sie zögerte, weiterzusprechen. Dann fuhr sie fort: »Für einen besonders akuten Fall. Ein Kind oder einen kranken Menschen, der sonst keine Chance hat und unbedingt gerettet werden soll.«
Bettina ahnte, dass Frau Dr. Husemann die Tabletten für sich selbst aufgehoben hatte und sie nun für einen Patienten opferte. Sie war der Frau unendlich dankbar. Trotzdem sagte Bettina: »Brauchen Sie die nicht für sich selbst? Ich meine, was passiert, wenn auch Sie noch ausfallen?«
Die Ärztin antwortete nicht. Sie räusperte sich nur und putzte sich die Nase.
Bettina Göschl nahm die Tabletten vom Tisch, um zu verhindern, dass die’ Ärztin es sich vielleicht doch noch anders überlegte, und fragte: »Wie soll ich sie ihm geben?«
»Erst einmal müssen wir ihn wecken, damit er schlucken kann.«
»Wie viele Patienten haben sich das Virus gefangen?«
Die Ärztin atmete stöhnend aus. »Ach, Frau Göschl, das Hauptproblem sind nicht die Viruskranken.«
»Nicht?«
»Nein. Es sind die ganz normalen Krankheitsfälle, die wir sowieso jeden Tag haben. Der Schlaganfall, der Herzinfarkt, das gebrochene Bein, der im Wirbel eingeklemmte Nerv, eine Blinddarmentzündung. Wie sollen wir diese Patienten behandeln? Wir sind doch sowieso schon überlastet und arbeiten knapp an der Kraftgrenze. Und jetzt? Den Viruserkrankten können wir im Grunde gar nicht helfen. Es gibt noch kein wirksames Medikament … außer Tamiflu. Aber viele Patienten mit normalen Krankheiten werden jetzt angesteckt und mit zwei solchen Problemen wird der Körper nicht fertig. Wir kommen oft zu spät und …«
Sie schüttelte den Kopf, als könne sie sich selbst nicht glauben. Erneut putzte sie sich die Nase, doch jetzt sah Bettina Göschl, dass die Frau keinen Schnupfen hatte, sondern nur die Geste machte, um sich verschämt eine Träne wegzuwischen.
»Wird Hilfe von außen kommen?«, fragte Bettina. »Die können uns doch nicht einfach hier in der Stadt einschließen und unserem Schicksal überlassen.«
»Nein«, sagte Frau Dr. Husemann, »eigentlich können sie das nicht. Aber ich fürchte, sie werden es tun, bis sie eine wirksame Impfung entwickelt haben. Es kann nicht mehr lange dauern. Ein, zwei Wochen vielleicht.«
Dann begann die Ärztin zu zittern. Bettina legte eine Hand auf ihren Arm und die Berührung ließ die Frau zusammenbrechen. Wie ein kleines Kind lag sie weinend in Bettinas Armen und schluchzte.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich kann nicht mehr! Hören Sie Radio? Oder haben Sie mal den Fernseher eingeschaltet?«
Bettina Göschl schüttelte den Kopf. Sie wollte sich und Leon weitere Horrornachrichten ersparen.
Frau Dr. Husemann fuhr unter Tränen fort: »Sie erklären alle paar Minuten, die Notaufnahmen der Krankenhäuser seien nicht zuständig, sondern die Hausärzte. Das haben sie schon bei der Schweinegrippe so gemacht. Man verlagert immer nur das Problem. Wenn Sie heute einen Unfall haben, Frau Göschl, kommt weder ein Krankenwagen zu Ihnen durch, noch haben Sie in der Notaufnahme eine Chance.«
Da öffnete Leon die Augen und sagte: »Nicht traurig sein. Nicht weinen. Es geht mir schon viel besser.«
Sofort riss sich Frau Dr. Husemann zusammen. Gemeinsam mit Bettina Göschl gab sie Leon eine Tablette. Es war nicht einfach. Zweimal verschluckte der Junge sich und hustete die viel zu große Tablette wieder aus.
Die Ärztin sah ihm in den Hals. Er war so zugeschwollen, dass sie sich fragte, ob die Tablette überhaupt einen Weg finden konnte. Aber dann schluckte Leon sie herunter und trank einen ordentlichen Schluck Wasser hinterher. Er rülpste und lachte über sich selbst.
Der tapfere Junge versuchte, die Frauen aufzumuntern. Am liebsten hätte er einen Witz erzählt, doch ihm fiel keiner ein.
Dann wurde ihm wieder schwarz vor den Augen und er sackte in sich zusammen. Bettina kühlte seine Stirn mit einem feuchten Tuch.
Frau Dr. Husemann wollte gehen, aber Bettina hielt sie fest: »Soll ich uns nicht erst mal einen Kaffee kochen?
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