Todesbrut
Kapitän Ole Ost. Was hier an Bord geschah, war ihm inzwischen völlig gleichgültig. Er konnte nur noch einen Gedanken denken: Wenn das alles vorbei ist, werde ich als Mörder dastehen. Mein bisheriges Leben wird beendet sein. Man kann einen gefesselten Mann nicht in Notwehr erschießen.
Fokko Poppinga lebte nicht mehr. Sein Tod durfte nicht an ihm, Rainer Kirsch, kleben bleiben. Inzwischen fand er es gut, dass Henning Schumann mit seiner Waffe herumlief. Alle Menschen an Bord konnten es sehen. Schließlich legte Schumann großen Wert darauf, sich mit der Pistole Respekt zu verschaffen.
Der Schuss auf Poppinga war in großer Aufregung gefallen und es gab nur wenige Zeugen. Wer würde sich schon richtig erinnern können? Es gab zwei Leute, die für spätere Aussagen vor Gericht wirklich wichtig waren: der Kapitän Ole Ost und Tjark Tjarksen.
Wenn sie positiv für mich aussagen, dachte Rainer Kirsch, habe ich eine Chance. Ihr Wort wird viel mehr zählen als das von allen anderen. Und überhaupt: Jeder, der herumstand und zusah, hat sich mitschuldig gemacht. Im Grunde sind doch alle hier nur Meuterer.
Der Haarstylist aus Essen hatte ihm die Hände auf dem Rücken fest zusammengebunden. Zunächst waren seine Finger dick angeschwollen und taten weh. Jetzt spürte er sie nicht mehr.
Er rutschte auf dem Boden immer näher zu Ole Ost heran. Dabei berührte er die Füße von Fokko Poppinga. Er hatte das Gefühl, sich in die Hose gemacht zu haben, denn an seinem Hintern klebte es feucht. Aber dann sah er, dass er eine Blutspur hinter sich her über den Boden zog. Es war nicht sein eigenes Blut, sondern das von Poppinga. Eine Pfütze hatte sich am Boden zwischen den Rillen gebildet und Rainer Kirsch war mit seinem Hintern da durchgewischt.
Er ekelte sich vor sich selbst. Zu gern hätte er sich die Klamotten vom Leib gerissen und heiß geduscht. Aber die Befriedigung all dieser Bedürfnisse musste er aufschieben. Wie er befürchtete, noch für eine ziemlich lange Zeit.
»Sie haben doch gesehen, was geschehen ist«, sagte Rainer Kirsch und versuchte ein komplizenhaftes Lächeln. »Dieser Gymnasiast wird noch für größere Probleme sorgen. Das ist meine Pistole. Aber ich habe gar nicht geschossen. Er hat sie mir abgenommen …«
An der Körperreaktion von Ole Ost merkte Rainer Kirsch, dass der Kapitän sich nicht so leicht auf seine Geschichte würde einschwören lassen. Er rückte im Rahmen seiner Möglichkeiten von Rainer Kirsch ab, als sei es ihm unangenehm, von dem Mitgefangenen berührt zu werden.
Tjark Tjarksen schrie: »Sie haben ihn abgeknallt! Sie haben ihn einfach abgeknallt wie einen räudigen Hund!«
»Nein, das habe ich nicht! Sie konnten das aus Ihrer Perspektive gar nicht richtig sehen! Der Schumann hat mir die Pistole abgenommen und dann abgedrückt!«
»Nein, so war es nicht. Sie haben geschossen!«
»Ja, gut, okay, aber er hat mich geschubst. Ich wollte das nicht. Ich hätte doch niemals im Leben …«
Der Kapitän sagte nichts. Er knirschte mit den Zähnen und zwang sich zu schweigen. Er sah Tjarksen an und versuchte, ihm mit Blicken zu verstehen zu geben, er solle still sein.
70 Bettina ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und wusch sich das Gesicht. Sie richtete sich darauf ein, eventuell ein paar Tage hier mit Leon aushalten zu müssen.
Sie machte sich eine Liste aller Lebensmittel. Wenn ich selbst auch krank werde, dachte sie, muss ich den Kleinen und mich versorgen können, solange es möglich ist, bis Hilfe kommt.
Sie ging davon aus, dass das Leitungswasser noch genießbar war. Sie würden also nicht verdursten. Sie begann, Gerichte zusammenzustellen, und rechnete aus, wie lange sie durchhalten konnten.
Es gab sogar zwei Dosen Katzenfutter, obwohl sie keine Katze entdeckte. Damit, und mit Tomatenmark und Ketchup, wäre sie notfalls in der Lage, Spaghetti bolognese zu machen.
Wir könnten vier, fünf Tage durchhalten, dachte sie. Wenn ich die Rationen kleiner mache, sogar ein bisschen länger. Es fehlen natürlich Vitamine. Wir bräuchten auch etwas Frisches. Aber dies waren nicht die Zeiten für frisches Obst und Gemüse.
Dafür fand sie im Medizinschränkchen eine Dose mit Ascorbinsäure, also reines Vitamin-C-Pulver. Es war noch gut ein gehäufter Esslöffel voll in der Dose und das Verfallsdatum war auch noch nicht überschritten. Sie nahm sich vor, dem Kleinen täglich eine Prise davon ins Trinkwasser zu mischen.
Leon wurde wach und weinte, weil sein Hals so
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