Todesbrut
Der Fahrer lag schwer verletzt am Straßenrand. Ein Lkw, ein VW-Bus und mehrere Pkws fuhren hinter einem Bagger her. Der Baggerführer schwenkte die mächtige Schaufel, räumte mühelos zwei Polizeiwagen aus dem Weg und ließ Absperrungen wie Streichhölzer einknicken.
Ein Polizeibeamter holte den Baggerführer mit einem gezielten Schuss aus dem Führerhaus. Trotzdem versuchten die nachfolgenden Fahrzeuge, durch die einmal freigelegte Schneise nach außen zu dringen.
Hinten auf dem Lkw saßen Familienväter, die Molotowcocktails warfen. Sie hatten ihre Kinder unter einer durchsichtigen Plane zwischen sich und versuchten, mit den Brandflaschen die Fluchtschneise zu sichern. Vergeblich. Die Polizei eröffnete das Feuer. Einer der Männer sprach jetzt in die Kamera. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Es war, als könnte er selbst nicht fassen, was er gerade getan hatte. Er stand inmitten der Zerstörung und weinte: »Ich wollte doch nur meine Kinder retten. Ich habe zwei kleine Mädchen, sechs und acht. Ich bin kein gewalttätiger Mensch, kein Verbrecher. Aber ich will doch nicht zusehen, wie meine Kinder verrecken! Ich kann doch nicht abwarten, bis die Pest sie sich geholt hat! Jeder hätte an meiner Stelle so gehandelt, jeder.«
Ein Staatsanwalt sprach mit bebender Unterlippe von sechzehn teils schwer verletzten Personen und vier Toten. Darunter ein Polizist, der in einem der Wagen saß und von der Baggerschaufel erwischt worden war.
Einem plötzlichen Impuls folgend, stand Bettina auf, sammelte alle leeren Flaschen zusammen und ließ sie voll Wasser laufen. Wer weiß, dachte sie, wie lange das Leitungswasser noch genießbar ist und wie lange überhaupt noch Wasser aus der Leitung läuft.
Als sie mit zwei vollen Flaschen zum Kühlschrank ging, stieß sie mit dem Knie gegen einen Stuhl und stürzte beinahe. Verliere ich die Koordination?, fragte sie sich. Bin ich nur nervös oder hat mich dieses Virus tatsächlich erwischt?
Es klingelte. Sie rannte zur Tür, um ein zweites Klingeln zu verhindern. Sie hatte Angst, Leon könnte geweckt werden. Aber der schlief tief und fest.
Bettina sah durch den Spion, konnte aber niemanden entdecken. Dann hörte sie eine Kinderstimme. Sie öffnete. Ein blondes Mädchen, sieben, höchstens acht Jahre alt, mit verweintem Gesicht und ausgetrockneten, rissigen Lippen, stand vor ihr.
»Wer bist du denn?«
»Ich bin die Jüthe. Jüthe Werremann. Leon und ich sind in einer Klasse.«
Bettina Göschl ging in die Knie, um mit dem Kind in Augenhöhe zu sprechen.
»Was ist denn mit dir, Jüthe?«
Das Kind machte einen Schritt zurück. »Ist die Frau Sievers da?«
»Du möchtest die Mama von Leon sprechen?«
Jüthe kaute auf der Unterlippe herum und schielte an Bettina vorbei in die Wohnung.
»Frau Sievers ist leider nicht hier. Ich bin bei Leon und passe auf ihn auf. Was möchtest du denn von Frau Sievers?«
»Ist Leon denn da?«, fragte das Kind verwirrt.
»Ja, aber er schläft. Ich glaube, er ist ein bisschen krank. Er fühlt sich nicht so gut.«
»Ich wohne hier oben«, erklärte Jüthe und zeigte mit dem Finger die Treppe hoch. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Meine Mama ist tot.«
Bettina Göschl hatte augenblicklich einen heißen Kloß im Hals. Sie war mit solch einer Situation bisher noch nie konfrontiert worden.
»Bist du sicher, dass deine Mutter tot ist?«
Jüthe nickte. »Ja, ich glaube …«
»Ich schau nach«, sagte Bettina und lief die Treppe hoch. Dann blieb sie stehen und fragte: »Möchtest du mitkommen oder lieber so lange bei uns in der Wohnung warten?«
Ist es überhaupt richtig, wenn ich das Kind zu Leon lasse?, dachte Bettina. Steckt Jüthe sich dort an? Aber ich kann sie ja schlecht allein im Flur herumstehen lassen.
»Nein, ich komme mit!«, rief Jüthe und rannte hinter ihr die Treppe hoch.
Die Wohnung lag links oben, im vierten Stock. Die Tür stand weit offen und Bettina schlug sofort ein Geruch von abgestandener Luft, Krankheit und einer sauer gewordenen Erbsensuppe entgegen.
Ein bläuliches, flackerndes Licht lenkte Bettinas Aufmerksamkeit zunächst aufs Wohnzimmer. Dort stand ein Zweihundert-Liter-Aquarium mit defekter Leuchtstoffröhre. Für einen Moment befürchtete Bettina, das Flackern hätte etwas mit ihren Augen zu tun. Der Schwarm der Neonfische schien in abgehackten Bewegungen durch das Becken zu zucken. Sie wandte ihren Blick ab und sah auf den Kronleuchter an der
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