Todesbrut
Cremers Seite nickte mit ernstem Gesicht. Er war dabei kreidebleich und kaute auf der Unterlippe herum.
80 Ostfriesland erlebte einen zauberhaften Sonnenuntergang. Fast schon zu kitschig für eine Postkarte versank die Sonne glutrot in der Nordsee, während der Wind die schwarze Wolkenwand, die über der Insel aufgezogen war wie eine Teufelsfratze, auseinanderzog und mit den letzten weißen Wölkchen mischte, wie ein Latte macchiato, der langsam umgerührt wird.
Einige Touristen an der Promenade machten Fotos für die Daheimgebliebenen und als Erinnerung für sich selbst. Für einen Moment ließ das Bild einige von ihnen vergessen, dass gerade ein Hubschrauber abgestürzt war. Kein Besatzungsmitglied tauchte wieder auf.
Dann, als das Dunkelblau des Himmels langsam schwarz wurde, spülten Wellen den toten Körper von Antje an den Strand. In ihren Haaren hatte sich Seetang verfangen. Später, sehr viel später, würde ein paar Hundert Meter weiter Josef Flows Leiche gefunden werden, in seiner Tasche eine lebende Miesmuschel.
Im Schutz der Dunkelheit landete Benjo das Rettungsboot. Von hier aus konnten sie die Lichter an der Promenade sehen, aber sie waren weit genug weg.
Benjo sprang aus dem Boot. Das Wasser ging ihm bis zum Bauchnabel. Seine Füße sanken tief in den Sand ein. Sie waren auf einer Landzunge, einer Sandbank, die weit ins Meer hinausreichte.
Margit Rose hielt inne. Für einen Moment konnte sie sich nicht mehr bewegen. Waren das da Leichen? Oder angeschwemmte Müllsäcke? Lang gestreckte Körper lagen am Strand. Einige völlig leblos, andere bewegten sich. Vielleicht waren es doch Müllsäcke, mit denen der Wind spielte?
Aber nein, da reckte sich etwas hoch, und zwar gegen den Wind. Waren es Verletzte? Winkte da jemand?
»Ich steig hier nicht aus«, sagte Margit klar und drückte ihre Tochter fest an ihre Brust.
Kai Rose trug seinen Sohn an Land. Es herrschte eine merkwürdig gruselige Atmosphäre. Von hier aus waren die Lokale an der Promenade zu sehen. Sogar Musik wehte mit dem Wind herüber. Ein Shanty-Chor. Rolling Home, rolling home, rolling home across the sea …
Dennis reckte seinen Kopf. Er spürte seinen Fuß nicht mehr. Vom Bauchnabel ab war praktisch alles taub, als hätte sein Gehirn die Schmerzsignale blockiert.
Nach der Begegnung mit den Seehunden wirkte das Meer jetzt wieder dunkel und böse auf ihn. Er konnte auch die Lichter der Ostfriesland III sehen. Die Dunkelheit ließ alles näher erscheinen als bei hellem Tageslicht. Das Schiff hätte auch ein Luxusliner mit tanzenden Gästen nach dem Abendessen sein können, die warmen Lichter an Bord wirkten einladend in der rauen See.
Dennis umklammerte den Hals seines Vaters. Er spürte, dass sein Dad innerlich zitterte, und er war alt und klug genug, um zu wissen, dass es nicht an der Kälte lag oder der Erschöpfung. Sein Papa hatte einfach Angst.
Instinktiv beschloss Dennis, es ihm leicht zu machen und so zu tun, als ob er nicht merken würde, was mit seinem Vater los war. Sein Dad tat gern so, als hätte er alles im Griff, spielte den schlauen Alleswisser und Alleskönner. Dennis ließ ihn gern in dem Glauben, denn ein gut gelaunter Vater war ein besserer Vater … Doch Dennis war jetzt froh, dass Benjo bei ihnen war. Mit Benjo gab es mehr Hoffnung, dass alles gut ausgehen könnte.
Dennis stellte sich vor, wie er seinen Klassenkameraden in Köln von diesem Abenteuer erzählen würde. Sie säßen alle um ihn herum und staunten ihn an, weil er mittendrin gewesen war, wie im Zentrum eines Orkans, und er hatte überlebt. Die Meuterei an Bord. Diese komische Krankheit. Die Gefangenschaft auf der Toilette. Sein Fuß. Die Flucht im Rettungsboot. Alles würde er überstehen und dann davon erzählen. Den Streit seiner Eltern wollte er weglassen, solche Familiendinge gingen niemanden etwas an. Er würde in seiner Erzählung aus seinem Vater einen Helden machen. Einiges von dem, was Benjo gesagt und getan hatte, würde er ihm zuschreiben. Söhne von Helden stiegen bei allen im Ansehen. Söhne von trinkenden Müttern nicht.
Er überlegte, welche Rolle er seiner Mutter in der Geschichte geben würde. Sie sollte die Retterin von Viola sein. Ja, vielleicht konnte er es so drehen, dass seine Mutter es war, die dem Kellner den Finger abgebissen hatte, weil der ihre kleine Tochter erwürgen wollte.
Dieses Mal würde er seiner Mutter also etwas andichten. Dennis war gut darin geworden, etwas anders darzustellen, als es in Wahrheit
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