Todesbrut
deutlich, dass dort viel mehr Seehunde lagen, als sie in der Dunkelheit wahrgenommen hatten. Die Tiere rissen die Mäuler auf und machten Töne, die Margit eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließen. Sie sah die spitzen Zähne im Mondlicht und fürchtete, von den Tieren zerfetzt zu werden. So erschöpft, waren sie und ihre Kinder eine leichte Beute, dachte sie bang.
Doch die Seehunde griffen nicht an, sondern suchten Abstand. Wenn Benjamin einen Schritt nach vorn machte, wich die ganze Gruppe zurück. Nur ein großes, einzelnes Tier, Benjamin schätzte es auf gut zweieinhalb Zentner, richtete sich mit einem Mark und Bein erschütternden Schrei auf.
Es waren fünfzig, vielleicht sechzig Tiere und sie befanden sich mitten unter ihnen.
Zunächst hörten sie den Flugzeugmotor, dann sahen sie die Maschine. Sie flog ganz tief, vielleicht zehn, höchstens fünfzehn Meter über dem Boden. Es waren Scheinwerfer eingeschaltet und es sah aus, als würde noch jemand mit einer großen Lampe aus dem Fenster nach unten leuchten oder … Falls Benjamin sich nicht irrte, war da eine Tür im Flugzeug offen und von dort suchte ein Lichtkegel den Strand ab.
Benjo sprang hoch, winkte und brüllte: »Hier, wir sind hier! Wir sind hier! Hilfe! Wir sind hier!«
»Ich wusste, dass sie uns holen!« Margit Rose freute sich. »Jetzt wird alles gut, Viola«, flüsterte sie ihrem Kind ins Ohr. »Alles wird gut.«
Die trägen Tiere waren unglaublich flink. Das näher kommende Flugzeug vertrieb sie augenblicklich ins Wasser. Nur der Große mit der Drohgebärde blieb da und stellte sich fauchend seinen Feinden in den Weg, um sein Revier zu verteidigen.
In dem Moment fiel ein Schuss.
Der Seehund überschlug sich, seine Nasenspitze berührte den Sand, sein Schwanz reckte sich in den Himmel, dann klatschte er auf den Boden, hoppelte noch zweimal auf und ab und blieb liegen.
»Nicht schießen! Nicht schießen!«, rief Benjo. »Die Tiere tun uns nichts! Was soll der Mist denn? Der Seehund hat uns nicht angegriffen! Es ist alles in Ordnung! Alles in Ordnung!«
Margit Rose rannte mit Viola zurück, hin zum Rettungsboot. Sie warf sich mit ihrer Tochter ins Wasser, erreichte halb schwimmend, halb watend das Boot und presste sich mit dem Rücken fest dagegen. »Die wollen uns nicht vor den Seehunden schützen, die schießen auf uns!«, schrie sie.
Da öffnete Viola die Augen und wiederholte wie eine Beschwörungsformel, was ihre Mutter zuvor gesagt hatte: »Jetzt wird alles gut. Alles wird gut, nä, Mama?«
83 Die Dunkelheit veränderte alles.
Die Schützen wurden unsichtbar und zogen den Ring um die Hühnerfarm enger.
Zwei Ställe waren eingestürzt, zwischen den Trümmern leuchtete die Glut. Ab und zu flammten Feuer auf. Schwerer Qualm duckte sich auf dem Boden, als würde er sich ängstlich weigern, das Gelände zu verlassen. Die gelben Wolken schienen sich an Grashalmen und Gebäudeteilen festzuhalten. Immer wieder fuhr der ostfriesische Wind dazwischen und zerfetzte die watteähnlichen Gebilde. Körner glimmten wie lauernde Augen in der Nacht.
Eines der lang gestreckten Gebäude stand noch unbeschädigt da, als wollte es höhnisch seinen Angreifern trotzen. Im Wohn- und Bürohaus waren viele Scheiben zerstört, aber drinnen brannte warmes Licht, als wollte es Frieden verbreiten.
Hühner waren nicht zu sehen. Zwanzigtausend verhielten sich in den Volieren, in ihrem intakten Gebäude, so still, als ob sie vor Angst längst gestorben seien. Viele waren verbrannt, aber wo war der geflohene Rest? Wohin waren die Massen entkommen? Warum hörte man sie nicht? Versteckten sie sich in den tief liegenden Qualmwolken?
Mit solchen Gedanken stand Josy am Fenster und sah nach draußen. Manchmal lebte sie in magischen Kinderwelten. Ihre Seele brauchte diesen Rückzug. Dann wurden Gegenstände lebendig, Dinge hatten einen Willen und sie konnte mit ihnen reden. Sonst war sie im Leben eher realistisch, versuchte, klar und illusionslos zu denken. Sie interessierte sich für Politik, las den Wirtschaftsteil der Tageszeitung und verstand ihn sogar. Wer politisch so oppositionell war wie sie, musste Bescheid wissen, fand sie.
Manchmal glaubte sie, das Leid der gequälten Tiere und der misshandelten Natur am eigenen Leib zu spüren wie einen Schmerz, der ihr persönlich zugefügt wurde. Und dann gab es bisweilen Momente, da war es, als könnte sie mit Tieren oder Bäumen reden. Einmal, als sie Liebeskummer hatte und heulend im Bett lag, wurde sie
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