Todesbrut
stattgefunden hatte. Schon viele Taten seiner Mutter hatte er umgelogen. Jedes Mal, wenn zu Hause etwas passiert war, wenn mal wieder der Notarzt kommen musste, weil sie betrunken gestürzt war, dann gab es drei Wahrheiten.
Eine ungeschminkte für Oma Rose, die genau Bescheid wusste und ihre Schwiegertochter Margit nicht leiden konnte. Eine für die Schule und alle Bekannten und Nachbarn, die nicht wissen sollten, was los war, und denen gegenüber alles harmlos dargestellt wurde, oder Margit Rose wurde zum unschuldigen Opfer widriger Umstände, und dann, das war am schlimmsten, gab es eine Wahrheit, die alle drei – Papa, Dennis und Viola – Mama gegenüber vertraten. Die hatte fast immer einen Filmriss und konnte sich an nichts erinnern. Ihr gegenüber wurde alles noch viel peinlicher und dramatischer dargestellt, als es in Wirklichkeit gewesen war. So, hoffte Kai Rose, könnte sie dazu gebracht werden, endlich aufzuhören mit dem Alkohol.
Das alles funktionierte nicht wirklich. Die Nachbarn erfuhren doch irgendwann von der Sauferei, und wenn Mama herausbekam, dass sie keineswegs mit der Unterhose auf dem Kopf zum Kiosk gelaufen war, um sich Nachschub zu holen, dann lag der Anflug eines triumphierenden Lächelns auf ihrem Gesicht. Na bitte, so schlimm ist es ja gar nicht, sollte das heißen. Für kurze Stunden umgab sie dann in Dennis’ Augen ein engelhafter Glanz. Wenig später dann bekam ihr Blick oft etwas Abgründiges, ja Teuflisches, als sei sie nicht mehr sie selbst, sondern von etwas besessen.
Viola hatte ihre Mutter in solch einer Situation einmal gefragt: »Mama, wo bist du?«
Jetzt, so empfand Dennis es, war sie endlich wieder da. Er konnte sie spüren, selbst jetzt, auf dem Arm seines Vaters, fühlte er ihre Anwesenheit.
Der Gedanke durchströmte ihn warm. Seine richtige Mutter war zurück. Sie löste sich nicht mehr in Alkohol auf. Sie war wieder da. Stark und frei, als hätte er sie erfunden. Ja, in seinen Erzählungen war sie immer schon so gewesen, wie er sie jetzt erlebte.
81 Heinz Cremer drängte sich im Cockpit so nah an Doris Becker, dass sie seinen Atem roch. Sie blickte auf sein Gewehr und stöhnte: »Man kann die Fenster nicht öffnen, kapieren Sie das nicht? Das hier ist nicht Ihr Mercedes. Wir haben weder ein Schiebedach, noch kann man hier die Fenster runterlassen.«
»Dann machen Sie eben die Tür auf.«
»Das geht bei diesem Modell nur, wenn ich das Fahrgestell ausfahre.«
»Dann fahren Sie es aus, verflucht noch mal!«, schrie Heinz Cremer.
»Sie wollen auf die Menschen dort unten schießen, stimmt’s?«
»Ich will Warnschüsse abgeben.«
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie komplett verrückt sind?«
»Fliegen Sie tiefer. Tiefer! Leuchten Sie da unten hin! Ich habe gesagt, Sie sollen da hinleuchten! Da sind doch Leute! Sehen Sie, da! Fliegen Sie ran, fliegen Sie ganz nah ran und öffnen Sie die Scheißtür, verdammt noch mal!«
82 Diese Körper waren eindeutig lebendig. Da leuchtete gespenstisch etwas silbern Glänzendes im fahlen Licht auf. Waren es Haare? Margit Rose hielt sich die Hände vors Gesicht und blinzelte durch ihre Finger. Sie hatte Angst, ihr helles Gesicht könnte sie verraten. Für einen Moment schloss sie sogar ihre Augen, aus Sorge, das Glitzern könnte gesehen werden. Falls dort jemand mit einem Gewehr lauerte, war er bestimmt darauf bedacht, beobachtende Augen zu entdecken.
Warum ging Benjo einfach weiter? Sah er die Gefahr nicht?
Benjo hatte, als er das Rettungsboot an Land zog, seine Schuhe verloren. Der nasse Sand unter ihm war weich und kalt, aber schon nach wenigen Schritten veränderte sich der Boden; der Sand war jetzt hart und trocken und noch warm von der Abendsonne.
Etwas huschte vor seinen Füßen vorbei. Ein Krebs auf Nahrungssuche floh vor ihm. Benjo drehte sich um und rief zu Margit Rose, die zurückgeblieben war und bis zu den Knien im Wasser stand: »Das sind keine Menschen, das sind Seehunde!« Er lachte. »Seehunde! Wir sind auf der Seehundsandbank gelandet! Dieser Teil der Insel ist abgesperrt, damit die Tiere einen Zufluchtsort haben. Ich hoffe, sie gewähren uns Asyl!«
Er begann, die Situation als ironisch, ja witzig zu empfinden.
»Seehunde, na toll«, ereiferte sich Kai Rose. »Ein Krankenwagen wäre mir lieber.«
Auch Margit ging nun an Land und kam zusammen mit ihrem Mann näher an Benjo heran. Plötzlich setzte sich das Seehundrudel in Bewegung. Es geschah wie auf ein geheimes Kommando und es wurde
Weitere Kostenlose Bücher