Todesbrut
denkst du, dass du mit mir machen kannst, was du willst. Ich bin dir doch total egal. Du willst den Flieger …«
Chris schluckte. Sie überlegte kurz, ob sie es leugnen sollte, doch dann konterte sie: »Wer hat denn mit dem Spiel begonnen? Du hast doch mit der Karte ›Mein tolles Flugzeug und ich, der tolle Pilot‹ aufgetrumpft. Du wolltest mich damit rumkriegen. Und jetzt wirfst du mir vor, dass ich darauf abgefahren bin?«
Sie war ihm eindeutig überlegen. Wieder spürte er einen Fluchtimpuls.
»Ich mach jedenfalls nicht mit!«, stellte er trotzig klar.
»Na, dann hau doch ab, du Feigling! Halt dich nur schön aus allem raus! Geh … ab in deine Disco und reiß dir ’n anderes Mäuschen auf, mit mir verschwendest du nur deine Zeit.«
In dem Moment räusperte sich Holger Hartmann. Hassan fuhr herum. Hartmann richtete den Lauf seines Gewehrs auf ihn: »Oh nein. Du wirst nirgendwo hingehen, sondern mich mit deiner Kiste kutschieren. Los, steig ein!«
»Was haben Sie vor?«
»Wir haben klare Befehle …«
»Befehle?«, mischte Chris sich ein. »Von wem?«
Sofort schwamm Holger Hartmann. Er wusste nicht, wie er Cremer nennen sollte. Chef? Boss? Anführer? Statt zu antworten, lud er das Gewehr durch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Sie wollen doch nicht von der Insel fliehen. Sie wollen mit Ihrer Scheißknarre auf meinen Benjo schießen!«, kreischte Chris und griff nach dem Gewehrlauf.
Hartmann ging ein paar Schritte zurück und hob drohend die Waffe. Er richtete sie jetzt nicht mehr allein auf Hassan, sondern abwechselnd auch auf Chris.
Hassan fühlte sich erleichtert. Im Visier dieser Waffe war er für nichts mehr verantwortlich. Er wurde gezwungen. Damit konnte er umgehen. Er fühlte sich, als würde er das Leben von Chris retten, die furchtlos weiter auf Hartmann zuging.
Hassan sagte: »Okay. Steig ein.«
Sofort wandte Chris sich ihm zu. »Äi, spinnst du jetzt total? Den willst du fliegen und ihm helfen, womöglich meinen Freund abzuknallen?«
Holger Hartmann brüllte: »Stell uns nicht hin, als ob wir Mörder wären! Wir sind die Verteidiger von Borkum!«
»Ja, und darauf bist du wohl auch noch stolz, was? Verteidiger! Dass ich nicht lache! Terroristen seid ihr!«
»Halt dich besser da raus, Chris«, riet Hassan.
»Raushalten! Raushalten! Man kann sich nicht raushalten!«
Sie klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, um ihm zu zeigen, wie dämlich sie seine Haltung fand. Dann zischte sie: »Wir sind längst mittendrin! Kapierst du das nicht?«
85 Der Learjet drehte eine Spirale nach oben. Benjamin war sich sicher, dass die Maschine zurückkehren würde. Er rechnete, genau wie Kai Rose, mit einem neuen Angriff.
Kai rannte auf die Lichter an der Promenade zu. Es erschien ihm nah, doch das war eine Täuschung. Er stolperte und fiel mit Dennis hin. Der Junge rollte über den Strand und heulte vor Schmerz laut auf.
Kai Rose sah in den nächtlichen Himmel. Der Jet kam zurück.
Der getroffene Seehund zuckte noch.
Plötzlich wollte Kai Rose nur noch sein Leben retten. Eine verlogene, trügerische Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm ein, sie würden bestimmt nicht auf Kinder schießen, sondern nur auf Erwachsene. Bestimmt!
Dann rannte er, ohne sich umzudrehen, weiter.
Der Sand unter Dennis war feucht. Die Wellen leckten hier am Strand. Er versuchte, sich mit den Händen vorwärtszuziehen. Er hatte Angst, das Wasser könnte ihn überspülen und ihn auf seinem Rückzug wieder mitnehmen ins Meer. Er konnte mit seinem Fuß nicht schwimmen und würde ertrinken. Schon sah er sich im dunklen Wasser untergehen.
Seine Hände fanden keinen Halt. Sie gruben sich in den Sand wie Schaufeln, doch so konnte er sich nicht vorwärtsziehen. Er robbte auf der Stelle.
Das Flugzeug schraubte sich höher. Zwei Scheinwerfer tasteten den Himmel ab. Ein Seehund brüllte herzzerreißend. Es klang nicht wie ein Warnton für seine Gruppe, eher schon wie ein Angriffssignal.
Dennis konnte den Kopf nicht länger hochhalten. Seine Arme zitterten vor Anstrengung. Die Vibration setzte sich in den Schultern fort. Ein Schauer lief über seinen Rücken wie eine flüchtende Ratte. Dann fiel sein Gesicht kraftlos in den Sand wie ein achtlos fallen gelassener Fußball. Schildkrötenhaft kroch er vorwärts. Das kalte Nordseewasser an seinem Bauch gab ihm neue Kraft. Sein Gesicht schabte über den Sand. Er drehte es auf die rechte Seite. So war wenigstens die Nase frei.
Er schob eine Sandwelle vor sich
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