Todesbrut
geschlagen hatte. Er wartete darauf, dass sein Leben im Schnelldurchgang an ihm vorüberziehen würde. Er hatte oft gelesen, dass das so sein sollte, und sich immer gefragt, woher die Autoren dieses Wissen hatten. Fast triumphierend stellte er fest, dass es nicht stimmte. Auch diese Behauptung war also gelogen gewesen, wie so oft im Leben hatte man ihn auch damit belogen und betrogen. Vor seinem inneren Auge lief kein Film ab, er sah weder Frau noch Kinder noch Eltern. Er blickte nur in eine schwarze Fläche, auf der sich weiße Linien bewegten, die Schaumkronen der Wellen.
Dann traf ihn das Gewehr im Rücken. Eine Weile flog es neben ihm her. Er griff danach wie nach einer rettenden Reißleine, doch ihm hätte in dieser Höhe nicht einmal mehr ein Fallschirm helfen können.
Die Luft schnitt in seine Augen, aber er wollte sie nicht schließen, er zog es vor, dem Tod ins Gesicht zu blicken.
91 Thorsten Gärtner war nur noch ein jammerndes Häufchen Elend. Er saß an einen Baum gelehnt kraftlos da. Neben ihm lag Witko Knubbelnase. Er war ohnmächtig. Sein Gesicht leuchtete weiß in der Dunkelheit.
Corinna wagte kaum, sich zu bewegen. Sie hielt Witkos Kopf und streichelte, weil sie ihm sonst nicht helfen konnte, seine Stirn.
Eddy und Justin saßen etwas abseits. Justin blieb immer nah bei seinem Bruder, er versteckte sich ein bisschen hinter ihm.
Nur Niklas Gärtner stand aufrecht und sah mit sorgenvollem Blick auf seinen Sohn. Er musste ihn jetzt schützen.
Thorsten hustete. Er versuchte zu sprechen, doch durch seine verrotzte Nase und seine Tränen ging seine Stimme unter wie in einem Wasserfall. Nur Vokale waren zu hören: »I … o … a …«
Corinna hatte ihn schon immer für ein warmduschendes Weichei gehalten, aber auch sie konnte kaum noch sprechen. Ihre Hände zitterten. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und fürchtete sich vor dem Moment, wenn keine Glimmstängel mehr da wären. In dieser angespannten Situation brauchte sie das Nikotin, um überhaupt Luft zu bekommen. Sie sog gierig an der Zigarette, als bekäme sie aus ihr Lebensenergie.
Witkos Wunden hörten nicht auf zu bluten. Vielleicht hatte er nach dem letzten Besäufnis einfach zu viel Aspirin geschluckt. Er nahm manchmal am Morgen vier oder fünf Tabletten gegen den Kater. Bluter war er jedenfalls nicht – oder er hatte es allen verschwiegen. Ja, auch das konnte Corinna sich inzwischen vorstellen. Ein Bluter als Skinhead, das wäre eine traurige Gestalt, könnte nicht wirklich mitmachen, wäre auch dort ein Außenseiter.
Eddy schwieg verbissen und Justin, sein kleiner Bruder, wünschte sich zurück in sein Kinderzimmer, wollte seine alten Mickymaushefte wieder lesen und sich ins Bett verkriechen.
»Er wird sterben, wenn wir ihn nicht zu einem Arzt bringen«, sagte Corinna. »Er wird ganz einfach verbluten.«
Justin heulte auf wie ein junger, verlassener Seehund auf einer Sandbank. Eddy verpasste ihm eine Ohrfeige, danach war Justin still.
Thorstens Vater räusperte sich und richtete sich auf, als müsse er vor einer Versammlung sprechen. Er wusste, wie es war, schlechte Nachrichten zu überbringen, Träume platzen zu sehen und die Enttäuschungen auszuhalten, die andere erlebten, ohne selbst schwach zu werden. Er hatte bei der Versicherung gelernt, damit professionell umzugehen und sich nicht gefühlsmäßig zu verstricken. Hunderte Male hatte er den Satz formuliert: Tut mir leid, wir müssen Ihren Antrag ablehnen.
Er wappnete sich innerlich. Das hier war schwerer als alles, was er bisher in seinem Beruf an Hiobsbotschaften hatte überbringen müssen. Die neue Situation musste erst einmal als Realität anerkannt werden, erst dann konnte man nach einem Ausweg suchen.
»Wenn in der Legebatterie eine DVD existiert, die zeigt, wie ihr Fackeln über die Mauer werft, dann interessiert sich kein Mensch mehr dafür, ob euer Freund gestorben ist oder nicht. Die Jansens haben dann offensichtlich in Notwehr gehandelt und ihr werdet eures Lebens nicht mehr froh. Brandstiftung. Sachbeschädigung. Körperverletzung. Falls die da drinnen mit ihren Hühnern verbrannt sind – sogar mit Todesfolge …«
»W … wir haben die Fackeln erst geworfen, nachdem … die geschossen haben«, sagte Eddy.
Thorstens Muskelpakete krampften sich zusammen. Er knirschte mit den Zähnen. Er ahnte, worauf sein Vater hinauswollte. Der hatte Ahnung von Sachschäden, Folgekosten und so. Der wollte auf Nummer sicher gehen.
Er schluckte Schleim hinunter und
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