Todesbrut
her und bekam nassen Muschelsand in die Augen. Durch das rechte konnte er schon nichts mehr sehen.
86 »Runter, verdammt! Bringen Sie die Kiste runter! Die Eindringlinge sind da unten! Bringen Sie das gottverdammte Scheißflugzeug in eine günstige Schussposition!«, forderte Heinz Cremer.
Doris Becker fragte sich, was sie tun konnte. Dieser Verrückte feuerte tatsächlich aus dem Learjet auf die Menschen dort unten.
»Runter! Ich habe gesagt, runter!« Er schlug ihr in den Nacken.
Sie hatte erst ein einziges Mal im Leben so einen Schlag erhalten. Von ihrer Tante. Die Familie war fast darüber zerbrochen, so wütend hatte es ihre Mutter gemacht, dass jemand gewagt hatte, Doris zu schlagen. Jetzt hätte sie ihre inzwischen verstorbene Mama nur zu gern bei sich gehabt. Sie war voller Angst und Zweifel und brauchte dringend mütterlichen Rat.
»Frau Becker«, kommandierte Heinz Cremer barsch, »ich fordere Sie zum letzten Mal auf, Ihre Pflicht zu tun! Wollen Sie schuld daran sein, wenn Tausende auf Borkum sterben, nur weil Sie bockig waren?«
Der Korb mit Gummibärchen, Schokoriegeln und den Lieblingsbutterkeksen des Flugzeugbesitzers fiel um. Die Naschereien rollten über den Boden. Jens Hagen musste sich beherrschen. Zu gern hätte er sich ein paar Süßigkeiten in den Mund gestopft. Sein Körper schrie geradezu nach Schokolade. Er schämte sich für seinen Heißhunger und erlaubte sich nicht, in einen Schokoriegel zu beißen.
»Wie haben Sie mich genannt? Was bin ich?«, fragte Doris Becker, als hätte sie nicht verstanden.
»Bockig. Zickig. Wie Sie wollen.«
Seinen letzten Rest Autorität nutzend, sagte Jens Hagen knapp: »Tun Sie, was er sagt.«
Heinz Cremer sah ihn dankbar an und fügte hinzu: »Glauben Sie mir, ich weiß genau, was ich tue.«
Doris Becker zog den Learjet weiter hoch. Unter sich sahen sie schon zwei andere Maschinen.
»Aber die dort auf dem Strand, das sind doch auch Menschen!«, warf sie ein. »Lebewesen wie wir!«
Heinz Cremer räusperte sich. »Wenn Sie eine Lungenentzündung haben, weil es in Ihrem Körper von Bakterien und Parasiten nur so wimmelt, was tun Sie dann, Frau Becker?«
Sie wusste nicht, worauf er hinauswollte.
Sie war froh, dass er redete. Sie befanden sich jetzt schon in dreihundertzwanzig Meter Höhe und gut einen Kilometer weit von der Seehundbank entfernt. Undenkbar, von hier aus einen gezielten Schuss zu setzen.
»Ich gehe zum Arzt und nehme Medikamente«, sagte Doris Becker ruhig und es war kaum zu merken, wie sehr sie vor Aufregung zitterte.
»Genau«, freute sich Heinz Cremer, »Sie nehmen Antibiotika!«
»Ja, warum nicht?« Doris Becker hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Sie spürte jetzt, dass er dabei war, sie in eine Falle zu locken.
Cremer lachte demonstrativ: »Eben. Warum nicht. Sie töten Millionen Bakterien, damit es Ihnen besser geht. Sie sagen nicht: Oh, die armen kleinen Lebewesen haben doch auch ein Recht zu leben. Die sind nicht böse. Die haben keine Moral. Die sind einfach nur schädlich. Natürliche Feinde. Entweder Sie vernichten die Parasiten oder die netten, kleinen, ach so lebenslustigen Tierchen bringen Sie um.«
Jens Hagen hatte dieser Kette von Argumenten nichts entgegenzusetzen.
Doris Becker atmete heftig aus. »Von wem haben Sie diese nassforsche Art, Bakterien und Menschen gleichzusetzen? Sind Sie da selbst draufgekommen oder von wem ist das? Warten Sie, sagen Sie nichts. Ich rate. Hitler? Stalin? Osama bin Laden? Auf jeden Fall jemand, für den ein Menschenleben keine große Bedeutung hat.«
Stimmt, dachte Jens Hagen verunsichert. Irgendwie hat auch sie recht.
»Im Grundgesetz«, sagte er mit kindlicher Stimme, »steht, jeder hat ein Recht auf Leben.«
»Danke!«, fauchte Heinz Cremer. »Vielen Dank. Das war jetzt sehr hilfreich.«
Dann drückte er den Lauf der Waffe in den Nacken von Doris Becker. Das war Antwort genug, fand er.
Einen kurzen Moment trudelte die Maschine im Wind, dann sagte Doris Becker: »Sie werden nicht schießen. Wenn ich sterbe, stürzen wir ab.«
»Verlassen Sie sich nicht darauf, junge Frau. Wie Sie gerade treffend bemerkten, gibt es Leute, für die ein Menschenleben nicht allzu viel wert ist. Und wenn ich mich recht erinnere, glauben Sie, dass ich zu dieser Sorte gehöre. Da könnten Sie recht haben. Ich sterbe lieber im Kampf als im Siechtum durch ein Virus, das mein Gehirn zu Mus macht.«
»Ich auch«, sagte Jens Hagen, war sich aber gar nicht so sicher, ob das
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