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Todesbrut

Todesbrut

Titel: Todesbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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sprach näselnd, wie jemand mit einer schweren Erkältung: »Das heißt, wir müssen hoffen, dass der ganze Laden restlos abbrennt und keiner lebend rauskommt, der eine Aussage machen kann. Das wolltest du uns doch sagen, Pa, oder?«
    Sein Vater sah ihn mit eiskaltem Blick an. Hinter der geordneten Fassade des Spießers in seiner Doppelhaushälfte verbarg sich ein Höhlenmensch mit Urinstinkten.
    »Vor allen Dingen müssen alle Aufzeichnungen vernichtet werden. Filmaufnahmen sind viel gefährlicher als Zeugenaussagen. Woran können Menschen in solch einer Situation sich erinnern? Das nimmt jeder Provinzanwalt spielend auseinander und uns wird kein Provinzanwalt vertreten, sondern der beste, den man für Geld kaufen kann.«
    Thorsten registrierte sehr wohl, dass sein Vater »uns« gesagt hatte. Er würde ihn also nicht hängen lassen.
    Er brachte es in seiner provozierenden Art auf den Punkt: »Wir müssen sie also nicht umbringen, wenn wir die DVD erwischen?«
    Sein Vater antwortete darauf nicht, stattdessen mahnte er: »Wenn die Sache rauskommt, ist euer ganzes Leben versaut.«
    Corinna brauste auf: »Äi, Moment mal, was heißt das jetzt? Der hier liegt im Sterben, und statt ihm zu helfen, wollt ihr in die brennende Hühnerfarm zurück und eine DVD klauen?«
    »Vernichten«, stellte Niklas Gärtner klar. »Außerdem alle Laptops, Festplatten, Handys …«
    »Ihr wollt allen Ernstes da rein und …«
    »Ja, das wollen wir. Wer kommt mit?«
    Eddy hob seine Hand wie in der Schule. Nach ihm Justin.

 
    92 Dann war es ruhig vor der Hühnerfarm. Nur die Blätter der Bäume bewegten sich noch. Es war ein unwirklicher Flüsterton.
    Noch immer huschten Qualmschwaden geisterhaft über die Straße und irgendwo versteckt mussten zigtausend Hühner warten. Josy stellte sie sich vor wie eine Tierarmee, die nun bereit war, zurückzuschlagen. Gleich würden sie hervorbrechen und sich für das Elend und Unrecht, das an ihrer Lebensform begangen worden war, rächen.
    Hinter ihr las Tim am Computer die neuesten Nachrichten vor: »Im saudi-arabischen Mekka wurden die Heiligtümer für alle Pilger gesperrt, um eine Ausweitung der Seuche zu verhindern. In New York gibt es ein nächtliches Ausgehverbot. Das ist irre! Ein Ausgehverbot in the city that never sleeps. Das kriegen die doch nie durchgesetzt. Au, es kommt noch besser: Alle Fußballspiele wurden abgesagt. Die Bundesliga existiert praktisch nicht mehr.«
    »Das scheint dich ja alles sehr zu amüsieren!«, schimpfte Ubbo Jansen.
    »Ja«, gab Tim zu, »irgendwie ja.«
    Ubbos Stimme war brüchig und kalt: »Wir sitzen hier alle bis zum Hals in der Scheiße, deine Schwester hängt in Indien fest, unsere ganze Existenz geht den Bach runter, aber mein Sohn amüsiert sich. Was ist bei deiner Erziehung schiefgelaufen?«
    Tim antwortete nicht, er sah seinen Vater nicht einmal an. Stattdessen las er weitere Notfallberichte. Josy übernahm die Antwort für ihn: »Er spielt nur seine alte Rolle weiter, Herr Jansen.«
    »Welche Rolle?«
    »Na, das schwarze Schaf der Familie – das war er doch immer, oder nicht?«
    Josys Satz traf Ubbo Jansen wie eine Kugel. Er spürte den stechenden Schmerz in der Brust wie einen Einschuss. Ihm blieb sogar die Luft weg. Er wollte sich verteidigen, ihm fiel aber nichts ein, was er hätte vorbringen können. Er griff sich ans Herz. Er fühlte sich getroffen – schwer angeschlagen, als würde er durch eine offene Wunde Blut verlieren.
    Die Energie wich aus ihm. Die Selbstverständlichkeit, mit der Josy ihren Satz abgeschossen hatte, traf ihn unvorbereitet, machte ihm aber gnadenlos klar, dass sie recht hatte. Der Gedanke durchströmte ihn wie eine giftige Substanz. Sein Sohn fühlte sich als das schwarze Schaf der Familie und vermutlich war das die ganze Wahrheit. Lange vor dem Unfall war er schon das schwarze Schaf gewesen. Die Rolle war einfach frei gewesen und Tim hatte eine ideale Besetzung abgegeben.
    Brauchte nicht jede Familie so etwas? Einen identifizierten Schuldigen? Einen, der bei jeder Familienfeier die Wut auf sich zog, einen, der sich stellvertretend für alle blamierte? Einen, um den man sich immer Sorgen machen musste, weil er nur Mist baute? Einen, der dafür sorgte, dass niemand einen Grund für Minderwertigkeitskomplexe bekam, denn verglichen mit ihm war jeder andere immer gut.
    Genauso einer war Tim und jetzt, in dieser Sekunde, begriff Ubbo Jansen, dass Tim diese Rolle von ihm übernommen hatte. Ja, damals, in seiner Familie, war er das

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