Todesbrut
Manieren wettzumachen, aber jetzt hatte er die Chance, zum Helden zu werden.
Etwas war geschehen. Etwas, das wichtiger war als eine goldene Hochzeit. Er hatte einen Anruf bekommen und war sofort bereit, im Team mitzuarbeiten. Eine Gefahr musste abgewendet werden. Eine Gefahr, die auch seine Schwiegereltern und letztlich die ganze Feier bedrohte.
Die Nachrichten zuvor hatten sich überschlagen. Sein hypochondrischer Schwiegervater hatte sofort alle Symptome der Vogelgrippe an sich festgestellt und befürchtet, den Beginn der Feier gar nicht mehr zu erleben. Noch nie war Carlo Rosin von seiner Schwiegermutter so angesehen worden. Ihn durchflutete ein Gefühl des Angenommenseins. Sie küsste ihn sogar dramatisch auf die Stirn und sagte ihrer Tochter, in so einer Situation müsse eine Frau ihrem Mann den Rücken stärken. Er wusste, dass sich von heute an seine Position in der Familie grundlegend ändern würde. Jetzt wurden die Karten neu gemischt. Nie wieder konnte ein Modemacher oder ein Philosoph gegen ihn gewinnen. Der heutige Tag machte ihn groß. Er war ein Mann, der gebraucht wurde. Endlich!
Carlo Rosin stellte den Wagen ab. Ulf Galle ging an der Umfassungsmauer der Anlage hin und her. Er sagte sich auf, was er gleich sagen wollte. Sein Gehirn kam ihm plötzlich so leer vor. Er schielte zu Carlo Rosin. Der parkte den Wagen direkt vor einer Überwachungskamera und staunte, weil er sah, dass die Kamera seinen Gang an der Mauer verfolgte.
Diese Hühnerfarm kam Carlo wie ein Hochsicherheitstrakt vor. Überall große Schilder: »Betreten verboten«, »Privatgrundstück«, »Vorsicht, bissiger Hund«.
Alcatraz in Ostfriesland, dachte er. Die gut zwei Meter fünfzig hohe Mauer, bewehrt mit Stacheldraht, wirkte wie ein Stück Berliner Todesstreifen rund um eine Hühnerfarm. Je dicker die Mauern, je stabiler die Gitterstäbe, umso gefährlicher erschien Carlo Rosin das, was sich dahinter verbarg.
Ulf Galle, das sah Carlo sofort, ließ sich davon einschüchtern. Ihn selbst machte es stolz. Er kam sich umso wichtiger vor. Er schob sein Kinn vor, zog seinen Bauchansatz ein und klingelte.
Das Objektiv zoomte ihn heran. Die Gegensprechanlage summte. »Sie wünschen?«
»Mein Name ist Carlo Rosin vom Veterinäramt. Das ist …«
»Ich kenn Sie nicht. Halten Sie Ihren Ausweis vor die Kamera.«
Carlo kam der Aufforderung nach. Ulf Galle suchte noch nach seinen Papieren, als sich die Tür bereits mit einem Fauchen öffnete. Sie gingen durch eine Art Sicherheitsschleuse. Sie machten zwar keine Kameras aus, fühlten sich aber beobachtet.
Nach etwa zwanzig Metern befanden sie sich endlich auf dem Gelände. Hühner sahen sie nicht. Das hier hätte auch ein Krankenhaus, ein Gefängnis oder eine Schule sein können. Sie gingen auf das Hauptgebäude zu, ein normales Einfamilienhaus. Daneben fensterlose Hallen. Drei dicht nebeneinanderliegende, lang gestreckte Hühnerställe, in jedem mehr als zwanzigtausend Tiere.
Es gab eine Klingel, aber Carlo Rosin fand es unpassend, ein zweites Mal zu schellen. Er atmete tief durch und genoss den Moment der eigenen Wichtigkeit, die er spürte wie den Kick einer Prise Koks. Er griff sich sogar an die Nasenwurzel, so intensiv war es.
Dies innere Hochgefühl erhielt allerdings gleich einen Dämpfer, als sich die Tür des Haupthauses öffnete und er in die Augen von Ubbo Jansen sah, die ihn kalt fixierten. Hinter Jansen saß Tim im Rollstuhl und filmte die Szene.
»Bitte machen Sie die Kamera aus!«, forderte Rosins Kollege Galle vom Gesundheitsamt. Er hatte einen trockenen Hals und seine Stimme krächzte schwach.
Tim lachte aus der Deckung heraus, die der Rücken seines Vaters ihm bot. »Warum?«, fragte er. »Haben Sie etwas zu verbergen?«
Carlo Rosin hatte längst begriffen, dass er die Führung in dieser Sache übernehmen musste, auch wenn es anders abgesprochen war.
Er kam gleich zum Wesentlichen. Es nutzte nichts, um den heißen Brei herumzureden. »Herr Jansen? Die Ereignisse haben sich in den letzten Stunden zugespitzt. Sie haben ja bestimmt die Nachrichten gehört. Im Rahmen der Seuchenbekämpfung ist es notwendig …«, er machte eine kleine, wirkungsvolle Pause, »dass Ihr gesamter Tierbestand gekeult wird. Bitte bereiten Sie die notwendigen Maßnahmen vor. Wir versichern Ihnen, dass Sie alle erdenkliche Hilfe …«
Ubbo Jansen atmete heftig aus und blähte dann seinen Brustkorb auf. »Jetzt hör mal zu, du Clown. Meine Hühner sind gesund. Es gibt hier nicht ein einziges
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