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Todesbrut

Todesbrut

Titel: Todesbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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lassen. Für ihn war der Mann da nur ein Mensch in einer Fantasieuniform, nicht mehr als ein Straßenbahnschaffner. Der Kapitän schritt auf ihn zu.
    »Was willst du Fahrkartenabreißer?«
    »Ich bin Kapitän Ole Ost. Ich fordere Sie alle auf, sich hinzusetzen. Wir fahren zurück nach Emden …«
    Der Kellner hielt anklagend seine rechte Hand hoch. Erst jetzt registrierte Ole Ost das Stück abgebissenen Zeigefinger am Boden. Er wusste, dass er durchgreifen musste. Bei den meisten Menschen konnte er sich auf seine natürliche Autorität als Kapitän verlassen. Sie waren froh, wenn einer bestimmte, wo es langging. Aber es gab auch immer Leute, die grundsätzlich ein Problem mit Autoritäten und Uniformen hatten. Mit denen gab es immer Ärger, sie lehnten sich gegen Regeln auf, nur weil es Regeln waren.
    »Hinsetzen! Ich habe gesagt, Sie sollen sich hinsetzen. Alle! Bitte setzen Sie sich jetzt.«
    Mit festem Schritt ging er ohne Eile vorwärts und wiederholte immer wieder seine Worte.
    »Ich habe hinsetzen gesagt. Mein Name ist Ole Ost. Ich bin Ihr Kapitän. Bitte setzen Sie sich.«
    Er roch den Zigarettenrauch. Auch das musste er unterbinden. Vielleicht merkte man daran am schnellsten, dass die allgemeine Ordnung außer Kraft gesetzt wurde: Auch die kleinen Regeln galten plötzlich nicht mehr.
    »Das Rauchen ist hier verboten! Es gibt keine Ausnahmen. Bitte löschen Sie augenblicklich Ihre Zigaretten.«
    »Sonst werfen Sie uns über Bord, oder was?«, lachte der Punk, wurde aber leise, als die Frau neben ihm ihre Zigarette ausdrückte.
    »Meine Tochter … sie hat bestimmt eine Gehirnerschütterung!«, befürchtete Margit Rose. Sie hatte Probleme, Viola festzuhalten. Ihr Atem pfiff ungesund, trotzdem versuchte sie, sich aus den Armen der Mutter zu befreien. Sie wollte erneut zubeißen. Wenn den Erwachsenen diese Situation auch über den Kopf wuchs, sie würde sich verteidigen. Sich und Dennis und Mama und Papa. Die Erwachsenen kamen oft nicht klar, dann mussten die Kinder eben handeln.
    Sie war jetzt groß genug, sie wollte die Sache nicht mehr Dennis überlassen. Dennis war schwach. Dennis hatte versagt. Papa kümmerte sich viel um Dennis, wahrscheinlich hatte Dennis eine heimliche Krankheit, die alle ihr verschwiegen. Warum sonst trug Papa dauernd Dennis herum und nicht sie?
    Dennis bekam fast immer sein Lieblingsessen. Wenn er Milchreis mit Zimt wollte und sie Pfannkuchen, dann gab es Milchreis. Wenn sie nicht aufaß, war es nicht so schlimm, aber Dennis brauchte die Kraft. Er musste essen.
    Sie sollte nicht wissen, wie krank ihr Bruder wirklich war, dachte sie. Mama und Papa wollten sie schonen. Wahrscheinlich hatte Mama deswegen angefangen zu trinken. Die unheimliche Krankheit von Dennis hatte sie so traurig gemacht. Und die Eltern hatten ihr, Viola, die schlimme Krankheit von Dennis verschwiegen. Sie hatten Angst, dass sie alles verraten würde. »Meine kleine Plaudertasche« nannte Papa sie manchmal, weil sie nichts für sich behalten konnte. Mama und Papa befürchteten, die anderen Leute würden Dennis einsperren, wenn sie von seiner Krankheit wüssten. letzt war alles raus, aber sie hatte nichts verraten. Sie nicht! Sie beschützte Dennis!
    Etwas in ihrer Brust tat entsetzlich weh. Sie konnte sich nicht mehr richtig gerade machen. Die Faust hatte etwas in ihr verletzt. Sie spürte es genau. Etwas Wichtiges war in ihrem Körper kaputtgegangen. Aber sie war zäh, sie würde noch eine Weile durchhalten und die Familie verteidigen.
    »Mein Finger. Sie hat mir den Finger abgebissen!«, jammerte der Kellner. Er wurde langsam weinerlich. Der Biss hatte ihn vom Täter zum Opfer gemacht. Er wollte kein Feldherr mehr sein, der eine Armee befehligte, sondern nur noch ein Patient in einem gut geführten Krankenhaus, in dem die Ärzte Zeit hatten und moderne medizinische Gerätschaften.
    Margit Rose lockerte ihren Griff, um Viola nicht wehzutun. Benjamin wollte ihnen nah sein und lief zu den beiden. Für einen Augenblick war Margit abgelenkt und Viola riss sich los, um den Kellner erneut zu attackieren. Er wich ihren Bissen um Hilfe rufend aus. Er schlug sie nicht, um sich nicht ins Unrecht zu setzen. Alle sollten sehen, was hier los war. Er schrie nur.
    Der Kapitän fing Viola ab und hielt sie mit festem Griff. Sie strampelte, wollte auch ihn beißen, aber so wie er sie umklammerte, hatte sie keine Chance. Sie bekam kaum noch Luft, aber das lag nicht an seiner Umklammerung.
    Margit Rose baute sich vor dem Kapitän auf.

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