Todesbrut
»Lassen Sie meine Tochter los. Sie tun ihr weh!«
Helmut Schwann holte mit seinem Stuhl aus. Er legte all seine Kraft hinein und ließ ihn auf Kai Rose heruntersausen. Kai deckte sich mit erhobenen Armen und sprang rückwärts. Dabei stieß er seinen Sohn um und trat ihm auf den rechten Fuß.
Der menschliche Fuß hat sechsundzwanzig Knochen, sieben davon brachen unter dem Gewicht von Dennis’ Vater. Niemand bemerkte den kleinen Unfall, doch Kai Rose stolperte über seinen Sohn und fiel hin. Als er auf dem Boden aufschlug, sah er kurz in Dennis’ Gesicht und wusste sofort, dass es dem Kind schlecht ging.
Dennis schrie nicht. Er weinte nicht einmal. Er riss nur seinen Mund auf. Seine schmerzverzerrten Lippen zitterten.
Der Kellner rief: »Wir müssen jetzt …«
»Sie haben hier keinerlei Weisungen zu erteilen!«, stellte der Kapitän klar. Eigentlich duzten die beiden sich, aber Ole Ost fand das »Sie« jetzt passender. Es verfehlte seine Wirkung nicht.
Da raffte Kai Rose sich auf. Er trat Helmut Schwann wuchtig in die Weichteile. Der Steueranwalt knickte in den Knien ein. Sofort war seine Frau bei ihm.
»Schwänchen!!«
Margit Rose streckte die Arme nach Viola aus und Ole Ost fand, dass von dem kleinen Mädchen die geringste Gefahr ausging. Er übergab sie ihrer Mutter, erleichtert, sie loszuwerden.
Margit Rose konnte nur noch einen Gedanken denken: Ich muss mein Kind von hier wegbringen!
Ihre Tochter brauchte sie. Sie musste jetzt ganz Mutter werden. Es war, als würde sich ihr ganzes weiteres Leben in diesem einen Moment entscheiden.
»Die Mami ist bei dir, keine Angst, meine Kleine!« Sie hatte das Gefühl, diese Worte zärtlich zu flüstern. In Wirklichkeit brüllte sie sie heraus.
Kai Rose zog Dennis hinter sich her wie einen heruntergefallenen Rucksack.
Margit Rose flüchtete mit Viola zu den beiden. Violas Atem quietschte wie eine defekte Luftpumpe. Das Kind war in der Mitte wie durchgebrochen, als würden zwei getrennte Teile nur noch von der Haut und den Kleidern zusammengehalten.
Kai Rose öffnete die Tür zur Toilette und verschwand mit seinem Sohn darin, bevor Margit und Viola bei ihm waren. Er blickte sich nicht einmal nach ihnen um.
Er traute der Menge nicht. Nur die wenigsten hatten sich, wie vom Kapitän befohlen, hingesetzt. Diese Masse war hysterisch und das konnte jeden Moment in sinnlose Gewalt umschlagen. In einigen Augen flackerte blanker Hass, ja Mordlust.
Zum ersten Mal im Leben hatte Kai Rose Angst. Richtige Angst. Dies war anders als die Angst, sich zu blamieren, hatte nichts zu tun mit dem sorgenvollen Blick aufs überzogene Konto. Es war heißer als die Furcht vor dem Muttermal, das sich auf der Haut veränderte und verdächtige schwarze Ränder bekam. Es war eine existenzielle Angst, die seinen Körper in Alarmbereitschaft versetzte.
Er hatte nur einmal etwas Vergleichbares erlebt, das war Jahre her und hatte nur Bruchteile von Sekunden gedauert. Damals war ihm beim Überholen eines Lkws auf der Landstraße ein BMW entgegengekommen. Er hatte das Lenkrad herumgerissen und den Wagen in ein Maisfeld gesteuert …
Tausende heißer Nadelspitzen stachen plötzlich in seine Haut. Er musste handeln. Jetzt sofort. Er knallte die Toilettentür zu und stemmte sich dagegen.
Als Margit mit Viola vor der geschlossenen Tür stand, brach sie fast zusammen. »Er hat nicht auf uns gewartet …«, sagte sie mit zitternder Unterlippe. Dann schrie sie den Satz voll anklagender Empörung in den Saal. »Er hat nicht auf uns gewartet, das Schwein!«
Helmut Schwann lag in embryonaler Haltung auf dem Boden, beide Hände zwischen seine Schenkel gepresst.
Pittkowski klopfte heftig mit seiner rechten Faust gegen die Toilettentür, mit der Linken presste er das Tischtuch fest gegen seinen Mund und die Nase. Seine Stimme klang dumpf und künstlich, als er rief: »Mach die Tür auf und lass deine Frau und dein Kind rein, du Held!«
Nichts geschah.
Der dicke Pitt klopfte erneut. »Mach jetzt keine Scherereien, Arschloch. Wir hatten alle eine Menge Geduld mit dir. Strapazier unsere Nerven nicht zu sehr!«
Benjamin Koch war jetzt bei Margit. Er hätte am liebsten schützend den Arm um sie gelegt. Komischerweise empfand er die Gefahr, sich bei ihr oder Viola anzustecken, als unrealistisch, ja nebensächlich. Er wäre jetzt lieber mit ihr und den Kindern in der Toilette verschwunden, als bei den aufgebrachten Borkumurlaubern in dem Restaurant zu bleiben. Nur Margits Noch-Ehemann machte die Lage in
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