Todesbrut
Frau auf das Pflaster, schob ihr den Gitarrenkoffer unter den Kopf und bat Leon, ihr zu helfen, die Füße der Ohnmächtigen hochzuhalten, das sei gut für den Kreislauf.
»Ich kenne sie«, sagte Leon. »Das ist die alte Frau Steiger, die wohnt bei uns in der Straße.«
»Wir bitten Sie, diese nicht genehmigte Versammlung aufzulösen. Heute fahren keine Züge aus Emden ab. Der gesamte Zugverkehr ist ausgesetzt worden! Bitte bewahren Sie Ruhe und gehen Sie nach Hause!«, forderte jetzt eine rauchige Polizistenstimme, die wenig überzeugend klang.
»Nicht genehmigte Versammlung?! Ja, dreht ihr jetzt völlig am Rad? Nehmt ihr harte Drogen, oder was? Wir haben uns hier nicht versammelt. Wir wollen in den Zug! Wir sind Bahnkunden, keine politischen Demonstranten!«, schrie ein aufgebrachter Mann mit weißen Haaren und erntete Beifall dafür.
»Was nicht ist, kann aber noch werden!«, drohte ein angetrunkener Versicherungsvertreter, der eigentlich zur Jahreshauptversammlung nach Hannover musste, wo er – wie er lauthals kundtat – heute zum Bezirksleiter befördert werden sollte.
Bettina Göschl versuchte, die hilflose Frau anzusprechen, aber die reagierte nicht.
»Einen Arzt!«, rief Bettina. »Wir brauchen einen Arzt!«
»Ja, einen Nervenarzt für die Bullen!«, schrie der zukünftige Bezirksleiter, der gleichzeitig begriff, dass er um diese Zeit noch keinen Kräuterschnaps vertrug.
Bettina versuchte, sich zu den Polizisten durchzuarbeiten, aber je näher sie der Kette am Bahnhofseingang kam, umso aggressiver wurde die Stimmung auf beiden Seiten. Schnell sah sie ein, dass es so nicht ging. Sie kehrte zu Frau Steiger zurück.
Fast alle Menschen hatten ein Handy am Ohr, jeder musste irgendwen über die Lage informieren. Da waren viele zornige, ja hasserfüllte Stimmen um sie herum.
Bettina versuchte, über ihr Telefon einen Notarztwagen zu rufen, aber als sie mit dem dritten Anruf endlich durchkam, hörte sie zwar Stimmen wie in einem Großraumbüro, ein völliges Durcheinander, aber niemand sprach mit ihr. Sie bekam keinen Kontakt. Es war, als sei sie zwischen mehreren Telefonverbindungen gelandet, sie konnte alles hören, aber sie wurde nicht wahrgenommen.
Sie versuchte, sich Gehör zu verschaffen: »Ich heiße Bettina Göschl. Ich stehe hier auf dem Bahnhofsvorplatz in Emden. Bei mir ist eine ohnmächtige Frau. Bitte schicken Sie mir einen Rettungswagen.«
Statt der erhofften Antwort brüllte jemand sehr weit weg, wie durch einen dicken Vorhang: »Ich habe gesagt, Sie sollen aus der Leitung gehen! Jetzt legen Sie endlich auf! Sie blockieren einen Notruf! Gehen Sie endlich aus der Leitung, verdammt noch mal!«
»Dies ist ein Notruf«, sagte sie zaghaft, doch während sie noch überlegte und nach Worten suchte, um die Situation zu erklären, orientierte sie sich anders.
Das Gehupe der Autos, die vor dem Bahnhof feststeckten, die vielen Menschen, all das zerrte an ihren Nerven und machte ihr Angst. Das Ganze war unkalkulierbar geworden. Sie wollte nur noch weg hier. Das Gefühl, diesen Ort nicht verlassen zu können, legte sich um ihren Hals wie ein Strick, an dem sie aufgeknüpft werden sollte. Sie griff sich an die Kehle, reckte immer wieder den Kopf und rang nach Luft. Gleichzeitig versuchte sie, Frau Steiger beizustehen.
Die gute alte Dame rappelte sich jetzt wieder auf. Sie zog sich an Bettinas Gitarre hoch und blickte verwirrt um sich. Bettina wollte sie stützen, aber sie wehrte ab, als habe sie Angst vor der fremden Person.
»Vorsichtig«, sagte Bettina. »Halten Sie sich an mir fest. Sie sind gerade … umgefallen.«
Störrisch wie ein Kind, das sich um diese Uhrzeit noch nicht ins Bett schicken lassen will, schimpfte Frau Steiger: »Ich komm schon selber klar. Es geht mir gut.«
Sie torkelte zwei Schritte vorwärts. Leon breitete seine Arme aus, als ob er in der Lage wäre, ihren Fall aufzuhalten, und als hätte er es vorausgeahnt, knickte sie in den Knien ein. Bettina war sofort bei ihr, aber Frau Steiger schlug trotzdem hart auf dem Boden auf.
22 So aufgebracht hatte Tim Jansen seine Schwester noch nie gesehen. Nach wie vor hockte sie auf dem Flughafen von Mumbai. Sie, der Friedensengel mit den vielen guten Ideen von einem solidarischen Zusammenleben der Menschen – sie sah aus, als hätte sie Lust, eine Schlägerei zu beginnen. Ihre Lippen waren weiß vor Wut. In ihren Augen flackerte eine ihm bisher nicht bekannte Aggressivität. Sie schimpfte so unangenehm laut, dass er den
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