Todesbrut
dem engen Raum in seiner Vorstellung ungemütlich. Der Kerl war Benjo ein Rätsel. Ließ er Margit nicht rein, weil er befürchtete, sich bei ihr oder seiner Tochter das Virus zu holen? Aber das war doch irre. Wenn überhaupt, dann war der Sohn krank. Befürchtete er, Schwann könnte wieder auf ihn losgehen? Oder war es ihm ein Grauen, mit seiner Ehefrau und den Kindern dort eingesperrt zu sein? Hatte er Angst vor der möglichen Konfrontation?
Da öffnete Kai Rose die Tür einen Spalt und zeigte sein verschwitztes Gesicht.
21 Mit ihrer Gitarre Gitti auf dem Rücken wollte die Sängerin Bettina Göschl Emden so verlassen, wie sie gekommen war. Mit dem Zug. Sie wohnte nur knapp zwanzig Minuten Bahnfahrt entfernt in der ältesten ostfriesischen Stadt, Norden. Sie hatte für heute Abend Freunde eingeladen, eine Fischsuppe sollte gekocht werden, eine kleine Feier war vorbereitet. Die Premiere von ihrem neuen Musical im KIKA war ihr Anlass genug, das gesamte Filmteam einzuladen.
Schon bald ahnte sie, dass dieser Abend anders verlaufen würde als geplant. Sie wartete eine halbe Stunde an einem Taxistand auf einen Wagen, der sie zum Bahnhof bringen sollte, und versuchte immer wieder, die Zentrale anzurufen. Sie glaubte schon, ihr Handy sei kaputt, dann gab sie auf und entschied sich für den Bus, aber zu diesem Zeitpunkt gab es in Emden schon keinen geregelten öffentlichen Nahverkehr mehr.
Bettina Göschl blieb nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Sie war vor Jahren nach Ostfriesland gezogen, weil sie die gute Luft liebte und eine Smogglocke, wie sie im Sommer über Köln hing, an der windigen Nordsee keine Chance hatte. Doch heute fühlte sie sich in die schlimmsten Kölner Zeiten zurückversetzt.
So viele Autos hatte sie in Emden noch nie auf den Straßen gesehen und der Verkehr stockte. Es war kein langsames Kriechen, wie etwa auf der Autobahn, wenn sich eine kilometerlange Schlange durch das Nadelöhr einer Baustelle quält. Hier gab es stellenweise gar kein Fortkommen mehr. Je näher die Straßen an den Autobahnauffahrten lagen, umso weniger ging es vorwärts. Ein Hupkonzert von New Yorker Qualität änderte nichts daran. Über allem kreisten mehrere Hubschrauber, was die Menschen nicht gerade beruhigte.
Bettina arbeitete sich zum Bahnhof durch. Unterwegs traf sie ein paar Piratenkinder. Ihre Busse fuhren nicht, ihre Eltern waren nicht zu Hause – es schien ein großartiger, pflichtfreier Tag für sie zu werden. Einige machten einen fröhlichen, ja ausgelassenen Eindruck, ein paar kämpften aber auch mit den Tränen.
Von Weitem sah es aus, als ob hier eine aufgebrachte Menge demonstrieren würde. Die Emder Polizei hatte den Bahnhof abgesperrt. Aus einem Lautsprecher wurden Ärzte, ausgebildete Pflegekräfte und medizinisches Fachpersonal dringend gebeten, sich bei der Einsatzleitung zu melden.
Etwas abseits, an eine Laterne gelehnt, stand eine verzweifelte alte Dame neben ihrem Lederkoffer. Sie wollte zu ihrer alleinerziehenden Tochter nach Wilhelmshaven, sie hatte ihr versprochen, auf die Kinder aufzupassen, während die Tochter zu einem Fortbildungslehrgang fahren wollte. Sie kam sich vor wie eine Rabenmutter, weil sie jetzt ihre Tochter im Stich lassen musste. Sie schaffte es nicht, ihr Versprechen zu halten. Das war schrecklich für sie. Sie war so froh gewesen, gebraucht zu werden, und nun das.
Sie kam nicht weg von hier, aber sie hatte auch keine Ahnung, wie sie es jetzt zurück nach Hause schaffen könnte. Sie hoffte, einfach aus diesem Albtraum aufzuwachen. Aber etwas sagte ihr, dass er gerade erst begonnen hatte. Sie fühlte sich schwach, ihre Knie zitterten und es war, als würde alle Energie aus ihrem Körper weichen.
Bettina blieb bei der Frau stehen. Die alte Dame wirkte, als ob sie jeden Moment ohnmächtig werden würde.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Der Frau war die Frage unangenehm, sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, immer für andere da zu sein, dass es ihr schwerfiel, selbst Hilfe anzunehmen, und obwohl der Bahnhofsvorplatz vor ihren Augen zu trudeln begann, sagte sie mit Beben in der Stimme: »Danke, mir geht es gut.«
Der als Käpt’n Rotbart verkleidete Leon Sievers, Bettina erkannte ihn wieder, suchte mit gezogenem Gummisäbel Bettinas Nähe.
Aber sie konnte sich ihm nicht zuwenden. Die alte Dame sackte plötzlich zusammen. Bettina konnte gerade noch verhindern, dass sie hart auf den Boden schlug.
Vorsichtig legte sie die bewegungslose
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