Todesbrut
hatte sie jedes Mal geschworen, nie wiederzukommen, weil »die Nähe zu diesem alltäglichen Terror« sie so fertigmachte, dass sie nächtelang davon träumte. Sie behauptete, die Angst der Tiere riechen zu können, und diese Ausdünstungen würden ewig in ihren Klamotten hängen bleiben.
Sie sah aus wie ein Engel, fand Tim, diese morbide Düsterheit, die sie manchmal umgab, war wie verflogen. Irgendetwas trug sie unter ihrem Pullover. Es sah aus, als sei sie schwanger. Für einen Moment hatte Tim die Hoffnung, sie sei nur seinetwegen gekommen. Aber dann begriff er, es ging um etwas ganz anderes.
Sie berührte seinen Arm, als sie zu ihm sprach. Zwischen Zeige- und Mittelfinger war ihre Haut nikotingelb verfärbt. Den rechten Arm hielt sie unnatürlich verrenkt, sodass ihre Hand unter dem Pullover nicht zu sehen war. Es sah fast so aus, als würde sie eine Waffe verbergen.
Josy hockte sich hin. Ihre Haare hingen strohig herab, das Flackern in ihren Augen ließ ahnen, wie sehr sie in ihrem Innern brannte.
»Das große Keulen beginnt, Tim. Die Apokalypse. Entlang der gesamten A 5, auf dem sogenannten Hühner-Highway, brennen schon die Feuer. Der Geruch zieht bis in die Städte.«
»Ja, ich weiß. Ich habe es im Fernsehen gesehen. Die übereifrigen Spießer flippen mal wieder völlig aus.«
Ihr Atem roch schlecht und Tim fragte sich, wie eine schöne junge Frau sich so gehen lassen konnte. Putzte sie sich die Zähne nicht? Schlief sie nicht mehr? Ihre Gesichtshaut war stumpf und grau. Sie schien sich überhaupt nicht zu pflegen.
»Das ist Krieg, Tim, verstehst du? Richtiger Krieg. Ein Vernichtungsfeldzug. Und jeder Arsch beteiligt sich daran. Als ich hierherkam, habe ich Jäger gesehen, in Reih und Glied, entlang der Ems. Sie schießen auf Zugvögel. Die knallen systematisch alles ab, auch Tiere, die unter Naturschutz stehen. Das interessiert überhaupt keinen mehr.«
Jetzt hob sie ihren Pullover an. Sie war nicht schwanger und trug auch keine Handfeuerwaffe.
Ein weißes Federbündel wurde sichtbar. Ein roter Schnabel und ein Kopf mit schwarzer Haube halb unter den verknickten Flügeln versteckt.
Tim sah sie fassungslos an.
»Das ist eine Küstenseeschwalbe«, sagte Josy und in ihren Worten lag so unglaublich viel Respekt, ja Hochachtung, als würde sie über einen Engel reden.
Tims Herz schlug schneller. Sein Vater durfte das auf keinen Fall sehen. Sie hatte gegen eine wichtige Regel verstoßen, und das in diesen Zeiten. Kein fremder Vogel durfte in diese Gebäude hier. Das Einschleppen von Krankheiten musste um jeden Preis verhindert werden. Und dieses wild lebende Tier konnte alle möglichen Krankheiten in sich tragen.
Er rang nach Worten, wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte. Josy stand nicht gerade auf Regeln und Gesetze.
Sie redete weiter: »Ist er nicht schön? Keine anderen Vögel legen so weite Strecken zurück. Die brüten in der Arktis und überwintern am Südpol. Die haben mehr von der Welt gesehen als die meisten Menschen, aber in Ostfriesland werden sie auf ihrem Weg von ein paar hirnlosen Knallschützen in Fetzen geschossen.«
Sie hatte Tränen in den Augen.
»Was … was hast du mit dem Tier vor?«, fragte Tim und drückte sich fester in den Rollstuhl, beugte sich nach hinten, um möglichst viel Abstand zu dem verletzten Vogel zu bekommen.
»Ich wollte ihn in Sicherheit bringen.«
»Hier?«
»Ja. Wir müssen seinen rechten Flügel schienen. Er kann nicht mehr fliegen. So hat er keine Überlebenschance.«
»Flügel schienen?«
»Ja klar, was denn sonst? Mensch, das ist eine Küstenseeschwalbe.«
Er nickte mit offenem Mund: »Hm. Das hast du bereits gesagt.«
Sie sah ihn kritisch an. Unter ihrem fragenden Blick begann er sich sofort schlecht zu fühlen.
»Aber dir ist offensichtlich nicht klar, was das heißt! Das ist eine bedrohte Art. Die stehen auf der Roten Liste. Wenn wir nicht aufpassen, gibt es bald keine Küstenseeschwalben mehr, weil die Menschen sie vernichtet haben.«
Sie streichelte die schwarze Kopfhaube des Vogels. Der machte: »Kiu!«
Sorgenvoll blickte Tim zur Tür. Vor seinem inneren Auge lief ein schlimmer Film ab: Sein Vater kam herein, sah den Vogel, brachte ihn auf der Stelle um und verbrannte ihn, während Josy, wilde Flüche ausstoßend, weinte. So würde es laufen. Aber zuvor würde sie sich auf seinen Vater stürzen und ihm das Gesicht zerkratzen, denn Josy hatte Kampfgeist.
Tim atmete schwer.
»Das ist ein Stoßtaucher«, erklärte Josy. »Ich habe
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