Todesbrut
irgendwo anders absetzen. Keiner von uns will nach Emden zurück. Keiner!«
Als kleiner Junge hatte Charlie Piratenbücher geliebt und sehr bedauert, nicht in einer Zeit groß zu werden, in der der Wunsch, Korsar zu werden, eine realistische Berufsaussicht darstellte. Alles, was seine Eltern ihm dagegen vorschlugen, erschien ihm öde und langweilig. Er hatte Piratenbücher gesammelt und davon geträumt, später mal an einer Meuterei teilzunehmen.
Dies hier schien eine zu werden. An Bord der Ostfriesland III … Er, der Kriegsdienstverweigerer, war froh, dass keine Waffen ausgeteilt wurden. Er wusste nicht, wie er sich in dieser aufgeheizten Stimmung verhalten würde. Etwas wie Angst vor sich selbst erfasste ihn. Wenn jetzt ein Rädelsführer aufrufen würde: Schmeißt die Mannschaft über Bord! – Ich fürchte, ich wäre jubelnd dabei, dachte er und schämte sich dafür.
26 Ubbo Jansen hatte vier Telefonnummern von seiner Exfrau gespeichert. Zwei dienstliche und zwei private. Aber er konnte sie unter keiner erreichen. Mit Anrufbeantwortern wollte er nicht sprechen und ihr Handy war dauerbesetzt. Hatte sie ihm in ihrer Wut auf ihn und mit ihrer schrecklichen Art, ihn für alles verantwortlich zu machen, die zwei Witzfiguren vom Veterinäramt auf den Hals gehetzt? Sollte das ihre letzte große Abrechnung werden, ihre Rache, weil sie sich von ihm nicht mehr geliebt fühlte?
In seiner Vorstellung lastete sie ihm alles an. Den Konkurs. Die Schulden. Das Scheitern ihrer Ehe. Am Ende vermutlich sogar den Unfall von Tim. Es lag dann ja nur in der Logik der Betrachtungsweise, ihm auch noch den Ausbruch des Killervirus in die Schuhe zu schieben.
Niemand hatte mehr Sicherheitsauflagen befolgt als er. Er und seine Hühnereier würden bald für diese Welt viel wichtiger sein als all die Dummschwätzer aus Politik und Forschung, die jetzt im Fernsehen große Reden schwangen.
Er hätte ihr so gern die Meinung gegeigt, aber wie immer hatte sie Wichtigeres zu tun, als sich mit ihm zu beschäftigen. Szenen seiner misslungenen Ehe stiegen in ihm auf. Manches davon erschien ihm unwirklich, ja surreal, obwohl er es selbst erlebt hatte. Er kam sich vor wie ein Schauspieler in einer Tragikomödie. Er spielte die zweite Hauptrolle in diesem Ehedrama. Obwohl, je länger er darüber nachdachte – es war wohl doch nur eine Nebenrolle gewesen. Einige Hauptakteure und Strippenzieher hatte er erst sehr spät kennengelernt.
Er ging immer noch davon aus, dass Kerstin ein Verhältnis mit dem Fraktionsvorsitzenden ihrer Partei hatte, aber inzwischen war es ihm nicht mehr wichtig, log er sich selbst vor, während die Wut ihn innerlich fast zerfraß. Er würde ihnen allen zeigen, mit wem sie es zu tun hatten! Er war nicht einfach nur irgend so ein Hühnerzüchter und Eierproduzent.
Er rief in Hannover an. In der Landeshauptstadt würde man ihm weiterhelfen und diese Ignoranten hier in Emden stoppen, da war er sich sicher. In Kriegen hatte es schon immer Betriebe gegeben, die bevorzugt behandelt worden waren, weil sie kriegswichtige, ja kriegsentscheidende Produkte herstellten. So war es mit seiner Hühnerfarm jetzt. Im Kampf gegen die Teufelsbrut leitete er einen kriegswichtigen Betrieb. Niemand konnte seine Hühner vernichten, gerade jetzt nicht. Was bildeten diese Bürokraten sich überhaupt ein?
Sobald ein Impfstoff gefunden und genehmigt worden war, musste dessen Massenproduktion beginnen, um wenigstens die wichtigsten Teile der Bevölkerung, die für die Aufrechterhaltung einer gewissen öffentlichen Ordnung unverzichtbar waren, durchimpfen zu können. Der Impfstoff wurde in Eiern gezüchtet. Man brauchte mindestens ein hochwertiges Hühnerei pro Impfdosis.
Nach den ihm bekannten Plänen sollte ein Drittel der Bevölkerung rasch immunisiert werden. Bei einem 80-Millionen-Volk bedeutete das, es würden gut zwanzig bis dreißig Millionen frischer Eier gebraucht, und zwar nicht irgendwelche von freilaufendem, bis zum Hals verdrecktem Biofedervieh, sondern unter ganz speziellen – sozusagen klinischen – Bedingungen produzierte und gelagerte Eier. Würden alle Eier in Deutschland so hochwertig erzeugt, müsste ein Ei zwei, drei Euro kosten.
Er hatte die Investition damals mit EU-Mitteln gewagt. Es war seine Rettung und sein Neubeginn. Seine Hühnerfarm war eine Art geheimer Lagerstelle der Landesregierung geworden. Hier bei ihm konnte – notfalls unter Extrembedingungen – die Grundsubstanz für den Impfstoff hergestellt werden.
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