Todesbrut
hinter ihm her: »Wofür zahle ich eigentlich meine Steuern, wenn im Ernstfall keiner für mich da ist?«
Jens Hagen sah seinen Kollegen am Boden und bei ihm den Randalierer Holger Hartmann mit seinem Golfschläger. Hagen war aufgeregt wie nie zuvor in seinem Leben. Hier war alles schiefgelaufen und er steckte mittendrin in diesem Albtraum.
Er sah Griesleuchter nur von hinten zusammengesunken dasitzen. Er hatte den Eindruck, die junge Frau versuche, seinen Kollegen gegen Holger Hartmann zu verteidigen. Er kannte sie vom Sehen. Sie war genau sein Typ. Wenn sie bei »Kartoffelkäfer« auf der Terrasse saß und ihren Milchkaffee trank, dann war sie immer in ein Buch vertieft gewesen und hatte ihre langen Beine in Richtung Nordsee ausgestreckt, scheinbar, um sie von der Sonne bräunen zu lassen, doch sicherlich auch, um von den Männerblicken bewundert zu werden. Er jedenfalls fand diese Beine göttlich und hatte beim Kontrollgang auf der Promenade seinen Kollegen Oskar auf den schönen Anblick aufmerksam gemacht. Ja, er gab es gerne vor sich selbst zu, sie waren sogar ein zweites Mal vorbeigegangen, nur um noch einen Blick zu riskieren.
Aber jetzt hatte er keine Augen für Chris’ Beine. Er griff zu seiner Dienstwaffe und brüllte: »Weg da! Legen Sie den Schläger nieder!«
Kreischend sprangen die Menschen auf dem Kai auseinander. Ein Vater warf sich schützend über seine Tochter wie ein lebender Kugelfang. Da erkannte Jens Hagen, dass sein Kollege Griesleuchter keineswegs bedroht wurde.
Hartmann ließ den Schläger fallen und hob die Hände.
»Ich hab nichts gemacht … Nichts gemacht …«
»Hier ist alles in Ordnung«, beteuerte Chris.
Jens Hagen steckte die Pistole wieder weg. Es war ihm peinlich.
Chris entkrampfte die Situation, indem sie fragte: »Mein Freund ist auf der Fähre. Was wird denn jetzt? Lohnt es sich, hier zu warten, oder hat das gar keinen Sinn?«
Der Architekt Heinz Cremer mit dem runden Gesicht und den glühend roten Wangen, die Chris an die heruntergefallenen Äpfel im Garten ihrer Eltern erinnerten, nahm ihre Frage auf und rief mit geschwellter Brust: »Keine Ahnung, was Sie tun, junge Frau! Aber wir werden hier die Anlegestelle bewachen und sicherlich keinen an Land lassen, der die Todesbrut in sich tragen könnte.«
Die Zahl seiner Anhänger war größer geworden, wie das zustimmende Murmeln erkennen ließ.
Die Inselbahn fuhr fast leer zurück. Die meisten Menschen blieben an der Anlegestelle, einige aus Sorge, andere, weil sie das Gefühl beschlich, hier Teil von etwas Besonderem zu sein. Was hier geschah, war nicht ohne Bedeutung für den Rest der Republik. Sie machten hier gerade Geschichte, nur war noch nicht klar, wie ihr Tun später einmal gewürdigt werden würde – als weitsichtige und intelligente Aktion betroffener Bürger oder als engstirnige und gemeine Angstreaktion.
Chris saß allein im hinteren Wagen, als die Bahn anfuhr. Dann, als würde der Impuls in ihm erst durch die Bewegung ausgelöst, rannte plötzlich Oskar Griesleuchter hinter der Bahn her. Er schaffte es, sich an einer Stange festzuhalten und durch die stets offene Tür in den Waggon zu schwingen. Etwas in ihm war aus dem Lot gekommen. Es entsetzte ihn, doch er kam nicht dagegen an.
Er begann sofort damit, Chris zu malen, allerdings nicht so, wie sie jetzt vor ihm saß, sondern aus seiner Erinnerung, so, wie er sie gesehen hatte, als er auf dem Boden am Kai hockte.
Chris starrte auf ihr Handy und simste erneut an Benjo: Verdammt, melde dich! Was ist los?
Sie brauchte einen Kontakt. Sie musste Gewissheit haben, dass er noch lebte, und fragte sich gleichzeitig, wie sie auf die Idee kam, ihm könnte etwas Lebensbedrohliches zugestoßen sein. Wahrscheinlich betrank er sich aus Kummer an Bord, weil ihr Liebesurlaub, so wie es aussah, ins Wasser fiel. Zumindest zunächst.
Wenn sie gesehen hätte, was Oskar Griesleuchter in sein Heft skizzierte, wäre sie vermutlich schreiend vor Angst aus der fahrenden Inselbahn gesprungen. Es war ihr rechtes Bein mit dem Ansatz ihres weißen Slips, nur war das Bein von ihrem Körper abgetrennt wie nach einem Unfall oder einem schweren chirurgischen Eingriff. Dann malte er kichernd eine Hand, die unter ihren Rock griff, doch es fehlte der Arm zur Hand. Dafür tropfte Blut aus der Stelle, wo der Arm abgetrennt worden war.
Chris ging vom Bahnhof ins Hotel »Kachelot«. Es war ein kurzer Weg. Oskar Griesleuchter folgte ihr, aber als sie in der Eingangshalle verschwand,
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