Todesbrut
So erhoffte man sich möglichst viel Autonomie. Die letzte Erpressung der Bundesregierung und der Krankenkassen durch die internationale Pharmaindustrie hatte den Verantwortlichen die Augen geöffnet. Politiker mit genügend Weitsicht wollten sich nicht auf das Risiko einlassen, im Ernstfall Medikamente auf dem freien Weltmarkt erwerben zu müssen, wo die Industriestaaten sich gegenseitig überboten und die Gewinne der Konzerne explodieren ließen …
Sollten sie so viele Hühner keulen, wie sie zur Beruhigung der Bevölkerung brauchten. Seine Tiere waren tabu.
Er erreichte Dr. Tesic von der Planungsgruppe im Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit und berichtete ihm, was geschehen war. Der wusste nichts von dem amtlichen Besuch, den Ubbo Jansen gehabt hatte. Er interessierte sich aber auch nicht gerade brennend für solchen Kleinkram, den man leicht in den Griff bekam. Man sei im Moment noch dabei, sich auf länderübergreifende Maßnahmen zu einigen. Eine Ministerrunde tage bereits.
»Ja«, fragte Ubbo Jansen, »und was heißt das jetzt für mich?«
»Vermutlich, dass auf Sie ein großer Auftrag wartet, sobald der nationale Pandemieplan in Kraft tritt.« Nicht ohne Stolz fügte Dr. Tesic hinzu, dass die Bundes- und die Landesregierungen bestens für einen solchen Pandemiefall gerüstet seien. Die Horrormeldungen in der Presse dazu hielt er für »die typischen Übertreibungen sensationslüsterner Meinungsmacher«.
Ubbo Jansen brüllte ins Telefon: »Ich lass mich nicht mit euren üblichen Floskeln abspeisen! Das ist hier nicht die Bundespressekonferenz! Ich will Klartext und Hilfe!«
27 Tim wartete schon auf seinen Besuch. Akki und dessen Freundin Josy wollten kommen; sie hatten sich lange nicht sehen lassen, doch jetzt war er wieder interessant für sie. Als er Josy kennenlernte, saß er schon im Rollstuhl. Er hatte sich damals sofort verliebt. Ihr war das natürlich nicht verborgen geblieben, und obwohl sie fest mit Akki ging, hatte auch der keine Probleme mit Tim, nicht einmal, als Josy ihm zum Geburtstag einen Bauchtanz schenkte und den auf dem Schreibtisch in seinem Zimmer vorführte.
Ein bisschen kratzte Akkis zur Schau getragenes Desinteresse an Tims Selbstbewusstsein. War er als Rollstuhlfahrer so unattraktiv, dass er nicht einmal einen Grund für Eifersucht bot?
Josy umarmte ihn bei jeder Begrüßung und beugte sich dabei immer weit vor. Sie drückte sich jedes Mal einen Moment länger an ihn, als es üblich war. Ihr braunes Haar roch nach dem Qualm ihrer selbst gedrehten Zigaretten, ihr Pullover nach Patschuli und sie cremte ihre Haut mit etwas ein, das nach Kokos und Mandelblüte duftete. Aber er nahm den Geruch nur wahr, wenn er mit seiner Nase sehr dicht an ihre Haut kam. Der Duft schien geradezu auf ihr zu schweben und sie wie ein unsichtbarer Kokon zu umhüllen.
Es war ganz anders als bei seiner Mutter. Seit sie Bürgermeisterin geworden war, parfümierte sie sich für seinen Geschmack viel zu heftig ein. Es war ein aufdringliches Zeug, das die Menschen dazu brachte, in ihrer Gegenwart rasch ein Fenster zu öffnen. Ihrem Parfüm fehlte jede Frische, es kam ihm vor wie ihre Politik. Er bekam immer das Gefühl, damit sollte etwas überdeckt oder vertuscht werden, ganz so, als würde sie sonst ein Geruch von Fäulnis und Lüge umgeben. Aber vielleicht lag das daran, dass er Politiker im Allgemeinen und seine Mutter im Besonderen nicht mochte, denn für seine Mutter war die Politik immer wichtiger gewesen als er.
Er fand es spannend zu sehen, wie sich Menschen von einem Zustand in den nächsten verwandelten. Seit er im Rollstuhl saß, hatte er genaues Beobachten gelernt. Die einen setzten sich eine Sonnenbrille auf, die anderen, sein Vater zum Beispiel, banden sich eine Krawatte um und waren wie verwandelt. Manche Menschen wechselten ihre Bewusstseins- und Seinszustände in Sekunden. Am Fluss beim Angeln oder auf dem Meer war sein Vater ein ganz anderer Mensch als hier in seinem Hühnerknast.
Josy fuhr sich einfach durch die Haare oder putzte sich völlig verheult seelenruhig die Nase und war dann jemand anders. Er hatte nie vergessen, als er das zum ersten Mal erlebte. Auf Akkis Bitte hin hatte er den beiden die ganze Anlage gezeigt. Eigentlich war das streng verboten, aber er hatte es möglich gemacht, als sein Vater einmal ein paar Stunden in der Autowerkstatt war.
Josy war entsetzt, hatte beim Anblick der Hühner einen Heulkrampf bekommen und die
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