Todesbrut
diese … Möwe oder Schwalbe oder was auch immer auf keinen Fall Kontakt zu meinen Hühnern bekommt. Im Grunde ist das doch sowieso nur Tierquälerei, das müssen Sie doch einsehen. Es ist das Beste für den Vogel, wenn wir ihn von seinen Schmerzen erlösen.«
Ubbo Jansen wollte einen Schritt nach vorn machen. Tim fuhr mit dem Rollstuhl ein paar Zentimeter weiter und stellte sich quer, bereit, seinen Vater aufzuhalten.
»Was soll das, Papa? Sie kann einfach mit der Küstenseeschwalbe gehen und sie draußen freilassen …«
»Ja, das ist eine gute Idee. Ich werde einfach gehen. Ich hätte gar nicht erst kommen sollen. Aber ich dachte, hier könnte ich den Vogel vor den Wahnsinnigen verstecken. Zeigen Sie mir doch Ihren Pflegeraum. Ich brauche ein bisschen Desinfektionsmittel, Antibiotika – und gibt es Schmerzmittel für Vögel?«
»Was für einen Raum?«
»Na ja, einen Pflegeraum. Sie werden doch so etwas wie eine Krankenstation haben, oder?«
Ubbo Jansen verzog den Mund zu einem breiten Lachen. Heute war eine Menge schiefgelaufen und ganz sicher nicht sein Tag, aber der Gag war wirklich gut.
»So etwas haben wir nicht.« Er lachte. »Wir sind kein Tierheim. Hier gibt es kein Krankenhaus für pflegebedürftige Seevögel.«
Angriffslustig fauchte Josy: »Das heißt, Sie haben hier zwar sechzigtausend Hühner, aber keine Möglichkeit, ein krankes Tier zu behandeln? Sechzigtausend. Das ist schon mehr als eine Kleinstadt! Aber es gibt kein Krankenhaus?«
»Das würde sich nicht rechnen.«
»Na klar«, spottete Josy, »niemand gibt fünf Euro aus, um ein krankes Huhn zu retten, wenn man an jeder Ecke für drei Euro zwanzig ein halbes Hähnchen bereits fertig gegrillt kaufen kann.«
»Sie essen scheinbar keine Hühnchen, sonst …«
»Erraten!«
»Papa, bitte, mach mir das hier nicht kaputt«, flehte Tim und kam sich dabei klein und mickrig vor.
Ubbo Jansen sah von oben auf seinen Sohn herab. »Ich hab nichts gegen deine Freundin. Ich war nie ein Moralapostel, sondern immer ein Gönner. Meinetwegen kann sie gerne hier bei dir übernachten. Aber natürlich ohne Vogel. Wir werden dieses kleine Problem jetzt lösen und dann können wir ein Tässchen Kaffee trinken und …«
Josy schwenkte auf eine andere Linie ein. Sie spielte jetzt ganz die zukünftige Schwiegertochter. Im Grunde, dachte sie, traut der Alte es seinem Sohn gar nicht zu, eine Freundin zu haben, und verspottet ihn sogar mit der Möglichkeit. Der weiß vermutlich genau, wer ich bin, und genießt es, seinen Sohn vor mir kleinzumachen.
»Vielleicht haben Sie recht, Herr Jansen, und es war eine Riesendummheit von mir, mit dem Vogel hierherzukommen. Ich dachte wirklich, Sie könnten ihm helfen. Tim hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie verstehen doch so viel von Hühnern und …«
»Er hat Ihnen viel von mir erzählt? Na, viel Gutes kann das ja nicht gewesen sein, oder kennen Sie seinen Videochat im Internet nicht? Er gibt sich große Mühe, mich als Unmenschen darzustellen. Glauben Sie, ich kriege das nicht mit? Ich bin nicht der geldgierige, bescheuerte Kerl, für den er mich gerne ausgibt.«
»Bitte, lassen Sie mich und den Vogel gehen, Herr Jansen. Ich werde so etwas nicht wieder tun. Ich wusste nicht, wie bedrohlich das für Sie sein kann.«
Ubbo Jansen musterte Josy, dann sah er seinen Sohn an. Der blickte ihm eiskalt in die Augen.
33 Chris hatte Durst, wie morgens nach einem schweren Kater. Ihre Zunge fühlte sich dick und pelzig an. Sie kniete vor der Minibar in ihrem Zimmer im Hotel »Kachelot«. Vor Aufregung fand sie zunächst den Flaschenöffner nicht, und als sie ihn hatte, rutschte sie zweimal ab, bis der Kronkorken endlich nachgab.
Der Flaschenhals klapperte am Glasrand, so sehr zitterte sie. Sie trank gierig zwei Gläser leer, rülpste dann laut und kroch auf allen vieren zum Bett. Die Kühlschranktür der Minibar ließ sie offen stehen, auf dem Fußboden das Glas und die leere Mineralwasserflasche.
So, wie sie jetzt auf dem Bett lag, konnte sie den Leuchtturm sehen.
Oben an der Brüstung stand Oskar Griesleuchter. Aber er war zu weit weg, sie konnte ihn nicht erkennen.
Er dagegen, der immer der Meinung gewesen war, zur Ausrüstung eines Inselpolizisten gehöre ein Fernglas, für die Beobachtung des Küstenstreifens, sah sie dafür umso genauer.
Er war allein hier oben. Die Klarheit des Lichts hatte etwas Berauschendes an sich. Er summte den Otto-Groote-Song »Nordlandwind« aus Grootes CD »In’t blaue Lücht van
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