Todesbrut
Nörden« und bildete sich ein, dort hinten die Ostfriesland III zu sehen, die laut Fahrplan längst in Emden sein sollte, aber er interessierte sich nicht wirklich dafür. Etwas anderes zog ihn magisch an: Chris auf dem Bett.
Arme und Beine weit von sich gestreckt, wirkte sie auf ihn ein bisschen wie der gekreuzigte Jesus. Er stellte sich vor, sie sei ans Bett gefesselt und könne sich nicht mehr bewegen. Wie ein Opfer, das dargebracht wird, hilflos ausgeliefert. Für einen kurzen Moment schoss ein Heldentraum durch seinen Kopf, wie es wäre, sie zu retten aus den Fängen eines wahnsinnigen Killers, der sie bereits für das Opferritual hergerichtet hatte.
Ihr Freund war nicht da, um ihr zu helfen, so viel hatte Oskar Griesleuchter mitgekriegt. Sie war allein. Einsam und verunsichert, genau wie er.
Er erlebte sich selbst, wie er eine Weile durchs Fernglas zusah, während der Mörder begann, ihre zarte Haut zu zerschneiden. Er hatte Werkzeug mitgebracht. Eine Geflügelschere. Ein Beil. Messer. Wahrscheinlich ein gelernter Metzger, dachte Oskar mit kriminalistischem Spürsinn.
Er sah schon ein bisschen zu lange zu, fand er. Warum stoppte er die Tat nicht? Machte ihn das Zusehen an? Wollte er erst in letzter Minute als Held dastehen?
Ihr Anblick verwirrte ihn so sehr. Das, was er hier tat, war nicht in Ordnung. Es gab eine Stimme in ihm, die schimpfte laut. Es war die Stimme seiner Mutter, aber mit der Wortwahl seines Vorgesetzten. Das hier war verdammt voyeuristisch und justiziabel.
Aber schlimmer noch als das, was er tat, waren seine Gedanken. Schere … Beil … Messer … Er schüttelte sich. Nein, ich schaue ihr nur zu, um ein Verbrechen zu verhindern, dachte er. Alles gerät aus den Fugen. Gesetz und Ordnung gelten nicht mehr. Die Fähre darf nicht landen. Ein Mensch wird zerquetscht. Ein Architekt übernimmt das Kommando.
Er sah zu, wie Chris sich auf den Bauch drehte und eine Nummer in ihr Handy tippte.
Oskar Griesleuchter fühlte sich erwischt. Er versteckte das Fernglas hinter seinem Rücken. Es war für ihn, als würde sie ihn jetzt anrufen. Jede Sekunde konnte sein Handy klingeln und sie würde ihn anschnauzen und zur Schnecke machen. Er hörte schon ihre Stimme im Ohr, was er sich einbilde und ob er sie nicht mehr alle beisammenhabe und dass einer wie er für den Polizeidienst ungeeignet sei.
Er schlug sich selbst mit der flachen Hand ins Gesicht. Was ist bloß los mit dir?, fragte er sich. Was hast du für kranke Gedanken? Stimmt was mit deinem Gehirn nicht?
Dann hatte er plötzlich wieder das Geräusch im Ohr, wie zwischen der Vertäudalbe und der Schiffswand die Knochen von Lars Kleinschnittger zerquetscht wurden.
Ich habe es nicht verhindert, dachte er. Ich habe es nicht verhindert. Ich gehöre zu den Guten. Ich hätte es verhindern müssen!
Chris erreichte ihren Benjo. Er war nicht krank, aber er redete wirres Zeug.
»Sie haben uns auf der Toilette eingeschlossen. Sie glauben, der kleine Dennis sei infektiös. Nur, weil der Junge ein bisschen Schnupfen hat. Hier haben sich die Ereignisse überschlagen. Wir brauchen dringend einen Arzt.«
»Ich denk, der Junge hat nur einen leichten Schnupfen?!«
»Ja, aber sein Fuß ist gebrochen und seine kleine Schwester kriegt keine Luft mehr. Ich glaube, der Kellner hat ihr die Rippen gebrochen. Und die Eltern …«
»Der Kellner hat ihr die Rippen gebrochen? Benjo, was ist bei euch los?«
»Hier drehen alle durch. Es ist, als ob dieses Scheißvirus die Menschen verrückt machen würde. Sie werden aggressiv, verhalten sich völlig anders als sonst und …«
»Benjo, was hast du mit den Kindern zu tun und mit dieser Familie? Warum haben sie dich mit denen auf der Toilette eingeschlossen? Ich denk, du bist gesund?«
»Ja, bin ich auch.«
»Dann sieh zu, dass du da rauskommst! Oder willst du, dass der Junge dich ansteckt?«
»Er ist nicht krank, ich sag es doch!«
»Aber er hat eine Mutter und einen Vater … Was willst du da?«
»Einer muss doch helfen.«
»Wo sind seine Eltern?«
Benjo stöhnte. Er hielt sich den Kopf. Er fühlte sich unwohl dabei, so laut über die Situation zu sprechen. Alle bekamen mit, was er ihr sagte.
Er saß auf dem Boden, ein Rohr im Rücken, den Kopf ans Pissoirbecken gelehnt wie an ein Kissen.
Margit Rose kniete über ihre Tochter gebeugt und versuchte, sie durch Mund-zu-Mund-Beatmung am Leben zu erhalten. Kai Rose kniete daneben und gab bissige Kommentare ab.
»Ihr Herz! Du musst ihr Herz massieren. Nein, nicht
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