Todesbrut
unnatürlich ab, mit dem linken flatterte das Tier, reckte den Kopf nach vorn und öffnete den Schnabel zu einem Mark und Bein erschütternden »Kiu! Kiu!«.
Wie eine Waffe nutzte Josy den Vogel. Sie stieß damit in Richtung der Angreifer und kämpfte sich eine Gasse frei. Niemand wollte das Tier berühren. »Iiih« schreiend stoben sie auseinander und ließen aus Angst vor Ansteckung ihre vorbereiteten Pechfackeln fallen. Einige gaben Fersengeld, die Hardliner gingen nur auf Abstand.
»Ja, kommt nur, wenn ihr die Vogelgrippe haben wollt!«, schrie Josy. »Kommt nur! Das ist ein Laborvogel! Wir bringen ihn raus für die Tests. Er hat das Virus in sich!«
»Das glaube ich nicht«, rief Thorsten Gärtner. »Glaubt ihr kein Wort! Sie blufft nur, Leute!«
»So? Und warum hat sie die Möwe dann unter einer Plastiktüte? Ich hab noch nie jemanden gesehen, der einen Vogel in einer Plastiktüte herumträgt«, stöhnte Knubbelnase und hielt sich immer noch beide Hände vors Gesicht. Zwischen seinen Fingern tropfte Blut hervor.
Thorsten Gärtner konterte: »Doch. Meine Mutter. Jeden Samstag drei halbe Hähnchen.«
Ubbo Jansen krümmte sich auf dem Boden wie ein Embryo. Sein Körper zuckte. Es waren die Nerven. Er erwartete, jeden Moment wieder getreten zu werden.
Jetzt stand Josy schützend über ihm und verjagte mit der Küstenseeschwalbe seine Gegner.
»Haut ab!«, rief sie. »Haut ab oder ihr werdet alle sterben!«
Die Seeschwalbe machte mit. Sie hackte mit dem Schnabel nach vorn. Ihr Aussehen bekam etwas Flugdrachenartiges.
»Wie viele Tiere habt ihr da drin?«, fragte Thorsten Gärtner und wies auf die Anlage.
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, antwortete Ubbo Jansen, versuchte, auf die Knie zu kommen, und zog sich an Josy hoch. Dabei berührte er ihren Pullover mit der Nase. Sie roch nach Mandelblüten.
Langsam gingen sie rückwärts zum Wagen. Der Sitz war für Ubbo Jansen zu hoch, er schaffte es nicht, sich wie sonst ins Auto zu schwingen. So schob er sich langsam, den Oberkörper voran, auf den Sitz; dabei musste Josy ihm helfen.
Er stöhnte. Er konnte den linken Arm nicht mehr richtig bewegen. Kraftlos hing er herab, als würde er nicht mehr zum Körper gehören.
»Du musst fahren«, sagte er zu Josy.
Sie half ihm auf den Beifahrersitz und drückte ihm die Küstenseeschwalbe auf den Schoß. Das Tier machte Bewegungen, als wollte es wieder zu ihr zurück und hätte keineswegs vor, bei Ubbo Jansen zu bleiben.
Josy besaß einen Führerschein, aber sie hatte noch nie solch einen Geländewagen gefahren. Sie würgte zunächst den Motor ab. Inzwischen rottete sich die Bande wieder zusammen und bildete einen Halbkreis um das Fahrzeug.
Tim hatte sich wieder einigermaßen im Griff und filmte mit der Digicam die Gesichter.
»Papa, was ist mit dir?«
»Ich bin okay, ich bin okay.«
»Wohin jetzt?«, fragte Josy.
»Zurück zu uns, zurück aufs Gelände! Wir können jetzt nicht weg hier. Wir müssen zurück zu uns. Schnell, gib Gas, bevor die Schweine es sich anders überlegen!«
Josy schaffte es, den Rückwärtsgang einzulegen, und obwohl es nach hinten einen toten Winkel gab und ihr nicht klar war, ob der Weg frei war, fuhr sie gut zwanzig Meter rückwärts, bis sie rechts neben sich das Eingangstor zur Geflügelfarm sah. Zusammengekrümmt betätigte Ubbo Jansen den Türöffner per Fernbedienung.
Plötzlich flogen wieder Steine und die jungen Männer rannten grölend hinter ihnen her. Doch das Tor schloss sich vor ihren Augen.
Später, auf dem Monitor der Überwachungskamera, sah Tim sich einige von ihnen noch einmal an und hatte das Gefühl, dass sie ganz froh waren, vor einer verschlossenen Tür zu stehen – weil sie Angst vor dem hatten, was sie sonst hätten tun müssen.
37 Mit jedem vergeblichen Versuch, Rettung für Benjo und die Familie Rose zu organisieren, stieg die Verzweiflung. Inzwischen lag Chris nicht mehr auf dem Bett, sondern lief nervös im Zimmer auf und ab, weil sie nicht mehr wusste, wohin mit ihrer Energie.
Sie spürte so viel Kraft in sich, dass es ihr eher möglich erschien, zur Ostfriesland III zu schwimmen und sie alle persönlich an Land zu bringen, als weiterhin zu versuchen, einen Verantwortlichen ans Telefon zu bekommen. Soweit die Apparate nicht besetzt waren, landete sie in Warteschleifen. Man spielte ihr Musik vor, forderte sie auf, die Ruhe zu bewahren, alle Apparate seien belegt, aber sie würde bald zu einem freien Platz geschaltet, was natürlich nicht
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