Todescode
sie an. Er war völlig reglos, und sie hatte keinen Schimmer, was er dachte. Hatte sie ihn verletzt? Sie hatte es versucht und bedauerte es plötzlich. Was er zu ihr gesagt hatte, war gemein gewesen, zugegeben, aber sie fragte sich, ob ihre Reaktion darauf nicht regelrecht grausam gewesen war. Das eine rechtfertigte nicht das andere. Sie wollte sich entschuldigen, spürte aber, dass sie dadurch alles nur noch schlimmer machen würde.
»Ich glaube, ich hab zu viel getrunken«, sagte sie in der Hoffnung, dass er das als die indirekte Entschuldigung verstehen würde, die sie beabsichtigte.
»Ich begleite Sie zurück zum Hotel«, sagte er. Sie hatte mit einer Kränkung gerechnet, mit irgendeiner Bemerkung, dass sie wohl nichts vertragen könne. Die Tatsache, dass er offenbar die Lust auf weitere Wortgefechte verloren hatte, untermauerte ihre Vermutung, dass sie zu weit gegangen war.
Sie gingen die Columbus hinunter, dann durch Chinatown. Der Mond stand jetzt höher, der Wind war kälter als zuvor. Im nutzlosen gelblichen Licht der Straßenlampen wirkten die Dinge verschwommen, unwirklich. Autos und Schilder und Ladenfronten verschmolzen miteinander, trübe Formen im Griff der Dunkelheit.
Sarah bemerkte, dass Ben ständig den Kopf bewegte, nach links und rechts schaute, sogar nach hinten, wenn sie eine Straße überquerten oder um eine Ecke bogen.
Du könntest dich nie an ihn ranschleichen
, dachte sie.
Du würdest ihn frontal angreifen müssen.
Der Gedanke kam ihr seltsam vor, und sie merkte, dass sie betrunken war.
Im Hotel war es angenehm warm. Der Lichtschein von den Kronleuchtern und Wandlampen war an den Rändern unscharf, das Geräusch ihrer Schritte auf dem Teppich wirkte wie gedämpfte Herzschläge in der Stille. Im Fahrstuhl sprachen sie kein Wort. Sarah war sich seiner Nähe sehr bewusst. Er brachte sie bis zu ihrem Zimmer und wartete, bis sie die Karte aus ihrer Jeans gefischt hatte. Sie öffnete die Tür und drehte sich zu ihm um. »Ich möchte Sie was fragen«, sagte sie.
»Ja?«
»Weiß Alex das überhaupt?«
»Was?«
»Dass er eine Nichte hat?«
Eine Pause entstand. Er sagte: »Würde mich wundern.«
»Dann haben Sie es ihm nicht gesagt.«
»Wir reden nicht miteinander.«
»Warum nicht?«
»Haben Sie Geschwister?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Na, dann wäre das schwierig zu erklären.«
»Versuchen Sie’s.«
»Es ist eine lange Geschichte.«
»Haben wir keine Zeit?«
»Nein. Sie brauchen diese Nacht viel Schlaf, damit Sie morgen fit sind für Obsidian. Und ich habe heute Abend noch was zu erledigen.«
»Was?«
»Erzähl ich Ihnen morgen früh.«
Sie wollte noch mehr sagen. Vor allem aber wollte sie, dass er mit reinkam. Das wollte sie wirklich. Aber sie hatte Angst, zu fragen.
Sie standen einen Augenblick lang da. Er blickte weg und sagte: »Sie wissen, dass Alex in Sie verliebt ist.«
Was immer sie erwartet hatte, das jedenfalls nicht. »Was? Nein, ist er nicht.«
»Doch, ist er.«
»Hat er Ihnen das erzählt?«
»Nein. Das würde er nie tun.«
»Woher wollen Sie es dann wissen?«
Er seufzte. »Er ist mein Bruder.«
Wieso erzählte er ihr das? Wollte er damit sagen, er würde gern mit reinkommen, aber er wollte Alex nicht weh tun? Sie hatten so wenig Verbindung zueinander, dass Alex nicht mal von Bens Tochter wusste. Wieso sollte er sich da seinetwegen Gedanken machen? Und überhaupt, Alex war nicht in sie verliebt, das war lächerlich.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte sie.
Er lächelte, doch seine Augen waren traurig. »Sagen Sie gute Nacht.«
Sie sah ihn an, wartete. Dann sagte sie: »Gute Nacht.«
Und dann ging er auch schon weg. Seine Arme bewegten sich, und plötzlich hatte er einen Kartenschlüssel in der einen Hand und eine Pistole in der anderen. Sie dachte:
Was ist denn jetzt los?
Er öffnete die Tür und war in einer einzigen fließenden Bewegung verschwunden, das Klicken des Schlosses der einzige Beweis dafür, dass er eine Sekunde zuvor noch da gewesen war.
Sie stand da, fühlte sich betrunken und verwirrt und seltsam verlassen. Er ging mit gezogener Pistole in sein Hotelzimmer? Er war verrückt. Er musste verrückt sein.
Sie wartete einen Moment, doch er kam nicht wieder heraus.
Sie ging in ihr Zimmer. Nichts war passiert. Sie sagte sich, dass es auch besser so war.
22 Endlosschleife
Alex hatte das Zimmer verlassen, wie Ben ihm gesagt hatte, und Ben brauchte nur eine Minute, um sich zu vergewissern, dass er allein war. Jeder
Weitere Kostenlose Bücher