Todescode
Jahr zuvor durchlitten hatte, durchschaute er besser, als ihm lieb war, was andere sagten und was sie in Wirklichkeit meinten. Deshalb las er im Abschiedsbrief seines Vaters zwischen den Zeilen. Wie war sein Vater bloß daraufgekommen, seine tote Tochter würde ihn mehr brauchen als seine Frau und seine beiden Söhne? War der Grund dafür vielleicht irgendein Ereignis, hatte irgendwer irgendwas getan, weshalb er sich nutzlos fühlte? Ihm vielleicht das eine Stützbein weggetreten, das ihn noch aufrecht gehalten hatte – nämlich sein Wunsch, dafür zu sorgen, dass sein ältester Sohn das Studium beendete, ehe er sich in seine Soldatenabenteuer stürzte? Das wäre wohl zu viel verlangt gewesen, oder? Schieb deine großen Pläne einfach noch ein Weilchen auf, Ben. Dein Vater ist schwach, und dein egoistischer, selbstverliebter Schwachsinn wird auch noch den Rest zerstören, der von ihm übrig ist.
Ben war danach noch ein paar Monate zu Hause geblieben, aber Alex wusste, dass er das nur tat, um die Form zu wahren. Eines Abends, als sie zu dritt beim gemeinsamen Essen saßen, dessen Trostlosigkeit nicht mal das unaufhörliche Geplapper ihrer Mutter vertreiben konnte, rückte Ben damit raus, dass er seinen Eintritt in die Army nicht länger hinausschieben könne. Irgendwas mit Ausbildungsterminplänen, freien Plätzen bei den Luftlandetruppen, was auch immer. Alex wusste, dass es alles erlogen war.
Danach beschränkte sich sein Kontakt zu Ben auf verlegene Augenblicke am Telefon, wenn Alex den Fehler beging, überhaupt dranzugehen. Oder seine Mutter erzählte ihm mit falscher Heiterkeit in der Stimme irgendwelche Neuigkeiten über ihren Ältesten, nachdem sie mit ihm telefoniert hatte, und Alex tat so, als würde er sich freuen, das zu hören. Ben hatte sie höchstens ein halbes Dutzend Mal besucht, seit er zur Army gegangen war. Alex war brav zu den peinlichen Zusammentreffen erschienen, weil es seine Mutter sonst ins Grab gebracht hätte, und am nächsten Tag taten ihm manchmal vom vielen gezwungenen Lächeln die Gesichtsmuskeln weh. Und dann war sie trotzdem gestorben, und Ben hatte das ungeheure Opfer gebracht, tatsächlich zur Beerdigung zu erscheinen, um anschließend für immer aus seinem Leben zu verschwinden.
Und jetzt, nach all den Jahren Funkstille, nach all den Gründen, die Alex hätte, nachtragend zu sein, gibt er dem Blödmann die Chance, ein kleines bisschen Reue zu zeigen, ein wenig Respekt vor den Toten, und was muss er sich anhören? Nichts als Vorhaltungen.
Er blieb am Fenster stehen und blickte hinaus auf die Lichter der Stadt und die Bucht dahinter. Dann ging er wieder im Zimmer auf und ab. Na, was hatte er denn erwartet? Sein Bruder war eine Seuche, ein verdammter Virus, und die Krankheit, die er übertrug, war das Unglück anderer Menschen. Sich Osborne gegenüber als Missionar auszugeben, obwohl er wusste, dass Osborne Alex’ Boss war. Alex bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu beleidigen. Auch Sarah zu beleidigen, indem er sie verdächtigte, an dieser Sache, worum es auch immer ging, beteiligt zu sein. Er tat nichts anderes, als anderen unentwegt Kummer zu bereiten.
Er war froh gewesen, als Ben am Abend zu dem Jazzclub gegangen war. Er kam sich albern vor, das zuzugeben, sogar sich selbst gegenüber, aber er war ganz aufgeregt gewesen bei der Vorstellung, mit Sarah allein zu sein. Wieso, konnte er nicht genau sagen. Es war ja nicht so, als wenn zwischen ihnen irgendwas passieren würde. Irgendwas passieren könnte. Aber dennoch …
Sie war wirklich hochintelligent. Sie hatte an dem Tag eine ganze Reihe Ideen für mögliche Anwendungen von Obsidian gehabt, und obwohl keine davon den erhofften Durchbruch geliefert hatte, zeugte jede von einer enormen Kreativität. Sie hatte in Hilzoys Notizen ein paar Möglichkeiten gesehen, wie sich Obsidian nicht nur für die Verschlüsselung eines Netzwerkes nutzen ließ, sondern auch für die Verschlüsselung von zwischen Netzwerken verschickten Nachrichten, und sie hatte herausgefunden, wie das gehen könnte. Aber es waren bereits etliche Programme auf dem Markt, die die gleiche wesentliche Funktion wunderbar erfüllten. Sie kamen einfach nicht dahinter, was Obsidian für einen Vorteil bot, der die ganze Aufregung rechtfertigte, geschweige denn es wert war, dafür zu töten.
Er wünschte nicht zum ersten Mal an diesem Tag, er hätte Zugang zu dem Quellcode. Der wäre eine Riesenhilfe. Klar, wenn sie den Quellcode noch hätten, hätten sie ihn
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