Todesdämmerung
Schnees, und die Welt war so lautlos, daß sie wie ein riesiges Gräberfeld wirkte.
Der Tag war kalt, grau und düster. Im Augenblick wehte kein Wind.
Er hatte sich aus einem Stück Pappkarton und Schnüren eine Zielscheibe gemacht. Jetzt band er sie an den Stamm einer Douglaskiefer, die ein paar Meter hügelabwärts von der Windmühle stand, ging dann fünfundzwanzig Meter zu rück und legte sich flach in den Schnee. Er benutzte einen der eingerollten Schlafsäcke als Stütze, zielte auf die Mitte der Zielscheibe und gab drei Schüsse ab, pausierte nach je dem Schuß, um sicherzugehen, daß das Fadenkreuz wieder auf die Mitte der Scheibe gerichtet war.
Die Winchester war mit einem Dreifach-Zielfernrohr ausgestattet, das ihm die Zielscheibe dicht heranholte. Er schoß 180-Gran-Weichmantelgeschosse und sah jedes einzelne davon aufschlagen.
Die Schüsse zerschmetterten die morgendliche Stille und hallten aus fernen Tälern zurück.
Er stand auf, ging zur Zielscheibe und vermaß den durchschnittlichen Einschlagpunkt, also den Mittelpunkt der drei Einschläge. Dann maß er dessen Abstand zum Zielpunkt (also dem Zentrum der Scheibe, auf das er das Fadenkreuz ausgerichtet hatte) und konnte jener Zahl entnehmen, wie das Zielfernrohr justiert werden mußte. Der Karabiner zog nach rechts unten. Er korrigierte zuerst die Richthöhenskala und dann die Skala für die Windabweichung, legte sich dann wieder in den Schnee und gab weitere drei Schüsse ab. Diesmal stellte er zu seiner Befriedigung fest, daß er mit jedem Schuß die Mitte der Scheibe getroffen hatte.
Nachdem sich eine Kugel nicht auf gerader Linie, sondern auf einer gekrümmten Bahn bewegt, kreuzt sie zweimal die Sichtlinie — einmal beim Aufsteigen und einmal beim Fallen. Charlie konnte sich ausrechnen, daß bei der Waffe und der Munition, die er benutzte, jeder Schuß, den er abgab, die Sichtlinie zuerst bei etwa fünfundzwanzig Metern kreuzen und dann aufsteigen würde, bis sie etwa in hundert Metern Distanz sechs Zentimeter über dem Ziel sein und dann bei etwa zweihundert Metern die Sichtlinie ein zweites Mal kreuzen würde. Die Winchester war jetzt auf zweihundert Meter eingestellt.
Er wollte niemanden töten.
Er hoffte, daß es nicht notwendig sein würde, jemanden zu töten.
Aber er war bereit.
Christine und Charlie legten ihre Schneeschuhe und Rucksäcke an und gingen den Berg hinunter zu der unteren Wie se, um die restlichen Dinge aus dem Jeep zu holen.
Charlie trug den Karabiner am Schulterriemen.
»Du rechnest doch nicht damit, daß es Schwierigkeiten geben wird?« fragte sie.
»Nein. Aber was nützt es, ein Gewehr zu haben, wenn ich es nicht immer bei mir trage?«
Sie war heute eher bereit, Joey alleine zu lassen, als sie das gestern abend gewesen war, war aber immer noch nicht glücklich darüber. Seine Hochstimmung war nur von kurzer Dauer gewesen. Er war wieder im Begriff, sich in sich zurückzuziehen, in seine eigene innere Welt, und diesmal war dieser Wandel noch beängstigender als das letztemal, weil sie gestern abend gedacht hatte, seine Bedrückung wäre vorbei. Wenn er sich jetzt wieder in Schweigen und Verzweiflung zurückzog, würde er vielleicht sogar noch tiefer eintauchen als zuvor, und diesmal würde er vielleicht nicht zurückkommen. Es war durchaus möglich, daß ein ganz normales extrovertiertes Kind autistisch wurde und jede Be ziehung zur realen Welt abbrach. Sie hatte von solchen Fällen gelesen, sich aber nie darüber Sorgen gemacht, weil Joey immer ein offenes, vergnügtes, kommunikatives Kind gewesen war. Autismus war etwas gewesen, das den Kindern anderer Leute widerfuhr, nie ihrem eigenen ext rovertierten kleinen Jungen. Aber an diesem Morgen redete er kaum und lächelte überhaupt nicht. Sie wollte jede Minute bei ihm bleiben, ihn an sich drücken, aber dann erinnerte sie sich, wie ihn gerade die Tatsache, daß sie ihn gestern abend eine Weile alleine gelassen hatten, davon überzeugt hatte, daß die Hexe doch nicht in der Nähe sein konnte. Wenn man ihn heute morgen wieder sich selbst überließ, hatte das möglicherweise die gleiche heilsame Wirkung.
Christine sah sich nicht um, als sie und Charlie den Hügel hinuntergingen. Wenn Joey sie vom Fenster aus beobachtete, könnte er einen solchen Blick als Hinweis darauf deuten, daß sie sich um ihn ängstigte, und dann würde ihre Furcht die seine nähren.
Der Atem gefror ihr vor den Lippen, hüllte ihren Kopf in Rauhreif. Es war bitterkalt, aber weil kein Wind
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