Todesdämmerung
in denen sie für sie ohne Wert gewesen waren, plötzlich wieder Bedeutung hatten und ihr wichtig schienen.
Charlie schob den Feldstecher ins Futteral zurück und verschloß es. Er nahm den Karabiner von der Schulter.
»Geh du zur Hütte zurück«, sagte er. »So schnell du kannst. Halte dich zwischen den Bäumen, bis zur nächsten Wegbiegung. Ab dort können sie dich von der unteren Wie se aus nicht mehr sehen. Zieh Joey an. Packe Lebensmittel in deinen Rucksack. Tu, was du kannst, um bereit zu sein.«
»Du bleibst doch nicht hier? Warum?«
»Um ein paar von ihnen zu töten«, sagte er.
Er zog den Reißverschluß an einer der Taschen seiner Isolierjacke auf. Sie war mit Patronen gefüllt. Wenn er das Magazin des Karabiners leergeschossen hatte, würde er schnell nachladen können.
Sie zögerte, hatte Angst, ihn zu verlassen.
»Geh!« sagte er. »Schnell. Wir haben nicht viel Zeit.«
Ihr Herz schlug wie wild, als sie nickte, sich umdrehte und zwischen den Bäumen bergauf davonging, so schnell, wie ihre Schneeschuhe es erlaubten, und das war bei weitem nicht schnell genug. Hier und da mußte sie Zweige vor sich herschieben. Sie war dankbar dafür, daß die mächtigen Bäume kein Licht durchließen, so daß unter ihnen nicht viel wachsen konnte, sonst wäre sie viel langsamer von der Stelle gekommen.
Erfolgreiches Schießen mit einem Karabiner setzt zwei Dinge voraus: einen sicheren und festen Standort für den Schützen und daß der Abzug im exakt richtigen Zeitpunkt und so weich wie möglich betätigt wird. Sehr wenige Schützen — Jäger, Soldaten, was auch immer — sind wirklich gut. Viel zu viele von ihnen versuchen schnell und aus der Hand zu schießen, obwohl eine bessere Position zur Verfügung steht, oder üben den ganzen Druck auf den Abzug ruckartig aus und verreißen ihn dabei.
Am besten schießt es sich auf dem Bauch liegend, besonders wenn man bergab zielt. Nachdem Charlie seine Schneeschuhe ausgezogen hatte, ging er daher an den Rand des Waldes, bis an den oberen Wiesenrand und legte sich dort hin. Der Schnee war hier nur etwa fünf Zentimeter tief, weil der Wind vom Westen über die Wiese wehte und das Land freifegte, den größten Teil des Schnees nach Osten schob und ihn in Wehen entlang der Waldflanke auftürmte. Der Abhang war an diesem Punkt steil, und er blickte auf die Leute hinunter, die sich immer noch an dem Jeep zu schaffen machten. Er hob den Karabiner, stützte ihn auf seinen linken Handrücken; sein linker Arm war gebeugt, und der linke Ellbogen befand sich direkt unter dem Karabiner. In dieser Position würde die Wafffe nicht wackeln, weil die Unterarmknochen als Stütze zwischen dem Boden und der Waffe dienten.
Er zielte auf die dunkle Gestalt im vordersten Schneemo bil, obwohl es bessere Ziele gab, weil er fast sicher war, daß es sich dabei um Grace Spivey handelte. Sie hatte den Kopf unterhalb der Windschutzscheibe des Fahrzeugs, und damit war ihm eine Sorge genommen: Er brauchte nicht zu befürchten, daß der Schuß von dem Plexiglas abgelenkt wurde. Wenn es ihm gelang, sie zu erledigen, würden die anderen vielleicht psychisch daran zerbrechen. Für einen Fanatiker mußte es erschütternd sein, wenn sein kleiner Götze vor seinen Augen starb.
Sein behandschuhter Finger krümmte sich um den Abzug, aber das fühlte sich nicht gut an, vermittelte ihm nicht das richtige Gefühl; also streifte er mit den Zähnen den Handschuh ab, legte den bloßen Finger um den Abzug, und das war wesentlich besser. Die Mitte des Fadenkreuzes lag auf Grace Spiveys Stirn, weil die Kugel auf diese Distanz, bis sie ihr Ziel traf, unter die Sichtlinie fallen und damit etwa zweieinhalb Zentimeter tiefer einschlagen würde. Wenn er Glück hatte — zwischen ihren Augen. Andernfalls würde er sie immer noch im Gesicht oder am Hals treffen.
Trotz der eisigen Temperatur schwitzte er. Unter seinem Skianzug rann ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen.
Konnte man dies als Notwehr bezeichnen? Keiner von den Leuten dort unten hatte in diesem Augenblick eine Waffe auf ihn gerichtet. Er befand sich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr. Aber wenn er nicht einige von ihnen erle digt hatte, ehe sie näherkamen, würden sie ihn mit Sicherheit überwältigen. Dennoch zögerte er. Er hatte noch nie etwas so Kaltblütiges getan. Eine kleine innere Stimme sagte ihm, daß er, wenn er sich auf so etwas einließ, auch nicht besser als die Ungeheuer sein würde, die gegen ihn angetre ten waren. Aber wenn er es nicht
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