Todesdämmerung
zuckte erschreckt zurück. Joey warf die Decke zurück und setzte sich im Bett auf. Er war in jeder Hinsicht ein ganz normaler kleiner Junge, nur daß er anstelle eines Kopfes einen Totenschädel hatte. Die vorstehenden Augen des Schädels fixierten Charlie, und dann fingen die kleinen Hände des Jungen an, seinen Pyjama aufzuknöpfen; und als seine schmale kleine Brust frei dalag, begann sie sich zu spalten. Charlie versuchte sich umzudrehen und wegzurennen, aber er konnte es nicht, konnte auch die Augen nicht schließen, konnte nicht wegsehen, konnte nur zusehen, wie der Brustkasten des Kindes sich auseinanderspaltete und wie ihm eine Horde rotäugiger Ratten entströmte, wie die in dem Batterieraum, zehn, dann hundert, dann tausend Ratten, bis der Junge leer war und zu einem Häufchen Haut zusammengeschrumpft war, wie ein Ballon, dem die Luft entströmt ist, und dann rannten die Ratten alle auf Charlie zu...
Er wachte auf, schweißüberströmt, stöhnend, mit einem Schrei, der in seiner Kehle erstarrt war. Irgend etwas hielt ihn fest, behinderte seine Arme und Beine, und einen Augenblick dachte er, daß es Ratten wären, die ihm aus dem Traum gefolgt waren, und dann schlug er in seiner Panik um sich, bis ihm klar wurde, daß er sich in einem Schlafsack befand und den Reißverschluß zugezogen hatte. Er fand den Reißverschluß, öffnete den Schlafsack, befreite sich und kroch in der Dunkelheit, bis er zur Wand kam, lehnte sich mit dem Rükken dagegen, lauschte seinem dröhnenden Herzschlag und wartete darauf, daß der Puls sich normalisierte. Als er sich schließlich wieder unter Kontrolle hatte, ging er in Joeys Zimmer, nur um sich zu vergewissern. Der Junge schlief friedlich. Chewbacca hob den Kopf und gähnte.
Charlie sah auf die Uhr, sah, daß er etwa vier Stunden geschlafen hatte. Die Morgendämmerung nahte heran.
Er kehrte zur Galerie zurück.
Aber er konnte nicht aufhören zu zittern.
Er ging nach unten und machte sich Kaffee.
Er versuchte, nicht an den Traum zu denken, schaffte es aber nicht. Er hatte nie zuvor einen solchen Alptraum gehabt, und die erschütternde Macht, die dieser über ihn gewonnen hatte, ließ ihn glauben, daß das nicht so sehr ein Traum, sondern eine Art hellseherisches Erlebnis gewesen war, eine Vorahnung von Ereignissen. Nicht, daß Ratten aus Joey herausströmen würden, natürlich nicht. Der Traum war symbolisch gewesen. Aber er bedeutete, daß Jo ey sterben würde. Er wollte das nicht glauben, war von dem bloßen Gedanken erschüttert, daß es ihm nicht gelingen würde, den Jungen zu beschützen, und doch konnte er das, was er erlebt hatte, nicht als bloßen Traum abtun: er wußte es, er fühlte es tief in seinen Knochen: Joey würde sterben. Vielleicht würden sie alle sterben.
Jetzt begriff er, warum er und Christine sich mit solcher alles vergessenden Intensität geliebt hatten, mit solcher Hingabe, so animalisch. Tief in ihrem Inneren hatten sie beide gewußt, daß die Zeit verrann; in ihrem Unterbewußtsein hatten sie den nahenden Tod gefühlt und hatten versucht, ihn in jenem fundamentalsten, lebensbestätigendsten Ritual zu leugnen, der Zeremonie des Fleisches, dem Tanz, den man liegend tanzt.
Er erhob sich vom Tisch, ließ die halbgeleerte Tasse stehen und ging an die Tür. Er wischte den Beschlag vom Glas, bis er auf die schneebedeckte Veranda hinaussehen konnte. Er konnte nicht viel erkennen, nur ein paar tanzende Schneeflocken und Dunkelheit. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt überschritten. Und Spivey war dort draußen. Irgendwo. Das war es, was der Traum bedeutete. Wann würde sie kommen? Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihn plötzlich ihr Gesicht angesprungen hätte, so wie der Kopf eines Schachtelteufels.
55
Als es dämmerte, hatte es aufgehört zu schneien.
Christine und Joey waren früh aufgestanden. Der Junge war nicht so aufgekratzt, wie er das gestern abend gewesen war. Er war sogar wieder im Begriff, in seine düstere, vielleicht sogar verzweifelte Stimmung zurückzusinken, half aber seiner Mutter und Charlie, Frühstück zu machen, und aß reichlich.
Nach dem Frühstück zog Charlie sich warm an und ging hinaus, um den Karabiner einzuschießen, den er gestern in Sacramento gekauft hatte.
Im Laufe der Nacht waren fast vierzig Zentimeter Neuschnee gefallen. Die Wehen, die sich gegen die Hütte lehnten, waren wesentlich höher als gestern, und ein paar Fenster im Erdgeschoß waren zugedeckt. Die Äste hingen tief unter der Last des frischen
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