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Todesdämmerung

Todesdämmerung

Titel: Todesdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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zu ziehen, auf dem das Feuer brannte, wollte einen brennenden Ast packen und ihn werfen. Spivey sah ihn aus den Augenwinkeln gegen die tote Last seines eigenen gequälten Körpers ankämpfen und richtete die Waffe auf ihn. Aber die Mühe hätte sie sich sparen können; seine Kräfte reichten ohnehin nicht aus, um das Feuer zu erreichen.
    Kyle Barlowe blickte auf das Messer in seiner Hand und dann auf den Jungen und war nicht sicher, was ihm mehr Angst machte.
    Das war nicht das erste Mal, daß er ein Messer benutzte. Er hatte schon früher auf Menschen eingestochen, ja sogar getötet. Es war einfach gewesen, und er hatte damit etwas von der Wut abreagieren können, die sich gelegentlich in ihm aufbaute wie Dampf in einem Kessel. Aber er war nicht mehr derselbe Mensch, der er damals gewesen war. Er konnte jetzt seine Emotionen unter Kontrolle halten. Endlich verstand er sich. Der alte Kyle haßte jeden, der ihm entgegentrat, ob er ihn nun kannte oder nicht, weil sie ihn alle unvermeidlich von sich stießen. Aber der neue Kyle begriff, daß sein Haß ihm selbst mehr Schaden zufügte als anderen. Tatsächlich wußte er jetzt, daß man ihn nicht immer wegen seiner Häßlichkeit zurückgestoßen hatte, sondern häufig wegen seines mürrischen Wesens und seiner Zornesausbrü che. Grace hatte ihm ein Ziel im Leben gezeigt, ihn akzeptiert, und mit der Zeit hatte er die Zuneigung entdeckt, und nach der Zuneigung waren die ersten Anzeichen gekommen, daß er die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden besitzen könnte. Wenn er jetzt das Messer gebrauchte, wenn er den Jungen tötete, hatte er Angst, damit unvermeidbar wieder auf eine Bahn zu geraten, auf der er in die Tiefen zurückglitt, aus denen er aufgestiegen war. Er fürchtete das Messer.
    Aber vor dem Jungen hatte er auch Angst. Er wußte, daß Grace psychische Macht besaß, weil er gesehen hatte, wie sie Dinge tat, die ein gewöhnlicher Mensch nicht hätte tun können. Deshalb mußte sie recht haben, wenn sie sagte, daß der Junge der Antichrist war. Wenn er an der Aufgabe scheiterte, das dämonische Kind zu töten, dann würde er Gott im Stich lassen und Grace und die ganze Menschheit.
    Aber verlangte man von ihm nicht, seine Seele wegzu werfen, um gerettet zu werden? Sollte er nicht töten, um gesegnet zu werden? Machte das Sinn?
    »Bitte, tun Sie meinem kleinen Jungen nicht weh. Bitte«, sagte Christine Scavello.
    Kyle blickte auf sie herab, und sein Dilemma wuchs. Sie sah nicht wie die dunkle Madonna aus, so als stünde hinter ihr die Macht Satans. Sie war verletzt, verängstigt, bettelte um Mitleid. Er hatte ihr wehgetan und empfand jetzt Schuldgefühle wegen der Verletzung, die er ihr zugefügt hatte.
    Mutter Grace fühlte, daß etwas nicht in Ordnung war, und sie sagte: »Kyle?«
    Kyle drehte sich wieder zu dem Jungen herum und zog die Hand mit dem Messer zurück, um die ganze Kraft seiner Muskeln in den ersten Stich legen zu können. Wenn er die letzten paar Schritte geduckt machte, mit dem Messer von unten herauf zustieß, dem Jungen die Klinge in die Eingeweide trieb, dann würde in ein paar Sekunden alles vorbei sein.
    Das Kind weinte immer noch, und seine hellblauen Augen fixierten das Messer in Kyles Hand wie gebannt. Sein Gesicht war zu einer gequälten Maske des Schreckens verzerrt, und auf seiner fahlen Haut standen dicke Schweiß tropfen. Sein kleiner Körper war leicht verkrümmt, als ahnte er schon den Schmerz, der ihm bevorstand.
    »Stich zu!« drängte Mutter Grace.
    Fragen jagten durch Kyles Bewußtsein. Wie kann Gott barmherzig sein und doch mich die Bürde meines monströsen Gesichts tragen machen? Was ist das für ein Gott, der zuläßt, daß ich aus einem sinnlosen Leben der Gewalt und des Schmerzes und des Hasses erlöst werde — und mich dann zwingt, wieder zu töten? Wenn Gott die Welt beherrscht, warum läßt Er dann so viel Leid und Pein und Elend zu, und wie könnte die Welt schlechter sein, wenn Satan herrschte?
    »Der Teufel legt Zweifel in deinen Geist!« sagte Grace. »Von dort kommen sie, Kyle. Nicht aus deinem Inneren! Vom Teufel!«
    »Nein«, wandte er ein. »Du hast mich gelehrt, daß ich immer daran denken muß, richtig zu handeln, und deshalb werde ich mir jetzt eine Minute Zeit nehmen, nur eine Minute, um nachzudenken!«
    »Denke jetzt nicht, tu es!« sagte sie. »Oder geh mir aus dem Weg, damit ich diese Waffe gebrauchen kann. Wie kannst du mich jetzt im Stich lassen! Nach allem, was ich getan habe, wie kannst du jetzt

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