Todesdämmerung
Jahre und nicht einmal für eine Minute. Ich bin gekommen, um dich aufzuhalten.«
Das Kind gab keine Antwort.
Sie fühlte, daß seine Kräfte noch nicht so stark geworden waren, und ihre Zuversicht wuchs. Er hatte immer noch Angst vor ihr. Sie hatte ihn rechtzeitig gefunden.
Sie lächelte: »Hast du wirklich gedacht, du könntest mir entfliehen?«
Sein Blick löste sich von ihr, und sie wußte, daß er nach dem Hund suchte.
»Dein Höllenhund wird dir jetzt nicht helfen«, sagte sie.
Er begann zu zittern, und sein Mund zuckte; er versuchte zu sprechen, und sie konnte sehen, wie er das Wort >Mami< bilden wollte, aber er war unfähig, auch nur den leisesten Laut hervorzubringen.
Aus einer Scheide, die an ihrem Gürtel befestigt war, zog sie ein Jagdmesser mit langer Klinge. Es war nadelspitz und scharf wie ein Rasiermesser geschliffen.
Christine sah das Messer und schoß in die Höhe oder versuchte es zumindest, aber der quälende Schmerz in ihrem Bein behinderte sie, und sie brach wieder auf dem Steinboden zusammen, als der Riese seine Waffe auf sie richtete.
Zu Joey gewandt, sagte Spivey: »Ich bin für diese Aufgabe auserwählt worden, weil ich mich all die Jahre ganz Albert hingegeben habe, weil ich wußte, wie man sich ganz und rückhaltslos hingibt. Und so habe ich mich dieser heiligen Mission hingegeben — ohne Zögern, ohne Vorbehalt, mit jedem Funken Kraft und Willensstärke. Du hattest nie eine Chance, mir zu entkommen.«
Verzweifelt bemüht, Zugang zu Spivey zu finden, bemüht, an ihre Gefühle zu appellieren, sagte Christine: »Bitte, hören Sie zu, bitte, das stimmt doch alles nicht, Sie haben unrecht, schrecklich unrecht. Er ist doch nur ein kleiner Junge, mein kleiner Junge, und ich liebe ihn, und er liebt mich.« Plötzlich lallte sie und war wütend auf sich selbst, daß sie keine überzeugenden Worte finden konnte. »0 Gott, wenn Sie nur sehen könnten, was für ein süßer und lieber Junge er ist, dann würden Sie wissen, wie unrecht Sie haben. Sie dürfen ihn mir nicht wegnehmen, das wäre... so unrecht.«
Doch Grace Spivey ignorierte Christine und fuhr fort, das Messer ausgestreckt, auf Joey einzureden. »Ich habe viele Stunden im Gebet über diesem Messer verbracht. Eines Nachts sah ich, wie der Geist eines der Engel des Allmächtigen Gottes aus dem Himmel herunterkam, durch mein Schlafzimmerfenster, und jener Geist ist in diese Klinge gefahren, in den Stahl hinein, und jener Geist wohnt immer noch hier in diesem heiligen Instrument, und wenn es sich in dich hineinbohrt, dann wird das nicht nur eine Klinge sein, die dein Fleisch zerreißt, sondern auch der Geist des Engels.«
Die Frau war eine Irre, jenseits jeder Vernunft, und Christine wußte, daß ein Appell an Logik und Vernunft ebenso hoffnungslos sein würde, wie ein Appell an ihre Gefühle gewesen war, aber sie mußte es dennoch versuchen. Mit wachsender Verzweiflung sagte sie: »Warten Sie! Hören Sie zu. Sie haben unrecht. Sehen Sie das denn nicht? Selbst wenn Joey das wäre, was Sie sagen — und das ist er nicht —, aber selbst wenn er es wäre, selbst wenn Gott seinen Tod wollte, warum würde dann nicht Gott selbst ihn vernichten? Wenn Er den Tod meines kleinen Jungen wünschte, warum straft Er ihn dann nicht mit einem Blitz oder mit Krebs... oder indem er von einem Wagen überfahren wird? Gott würde doch Sie nicht brauchen, um sich mit dem Antichrist auseinanderzusetzen.«
Diesmal antwortete Spivey Christine, drehte sich aber nicht zu ihr um, sondern fixierte weiterhin Joey. Sie sprach mit einer Eindringlichkeit, die beängstigend war, mit einer Stimme, die sich hob und senkte wie die eines Predigers, aber mit viel mehr Energie als irgendein Elmer Gantry, mit einer tollwütigen Erregung, die manche Worte in animalische Knurrlaute verwandelte, und mit einer Hingabe, die andere Sätze wie Stücke einer Litanei klingen ließ. Das erzeugte eine zugleich erschreckende und hypnotische Wirkung, und Christine stellte sich vor, daß dies die gleiche geheimnisvolle Macht war, die Hitler und Stalin auf Menschenmengen ausgeübt hatten:
»Wenn das Böse uns erscheint, wenn wir es in dieser gequälten, gequälten Welt am Werke sehen, dann können wir nicht einfach nur auf die Knie fallen und Gott bitten, uns davon zu erlösen. Das Böse und die gemeine Versuchung sind eine Prüfung unseres Glaubens und unserer Tugend, eine Herausforderung, der wir uns an jedem Tag unseres Lebens stellen müssen, um uns der Erlösung und des
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